Es ist eine lange Liste geworden: Neun Lokführerstreiks in zehn Monaten bei der Bahn. Ein Tarifkonflikt bei der Post. Zwölf Ausstände der Lufthansa-Piloten in knapp einem Jahr. Geschlossene Türen bei den Kitas. Deutschland scheint im Fühsommer 2015 von einem Streik-Virus befallen.
„Ein Land versinkt im Streik“, titelte bereits am 5. Mai 2015 die Webseite RP-Online.
Keine Frage: Die jüngste Serie von Arbeitskämpfen verunsichert die deutsche Wirtschaft, seit Wochen klagen Verbände und Institute über die wirtschaftlichen Schäden. Nach Schätzung der BayernLB schlägt beispielsweise allein der sechstägige Bahnstreik der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) Anfang Mai 2015 bei Deutschlands Unternehmen mit 750 Millionen Euro zu Buche. Etwas geringere Kosten daraus fürchtet Dieter Schweer. Das Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) geht von Kosten in Höhe von 100 Millionen Euro pro GDL-Streiktag aus.
Doch nicht nur die hiesigen Unternehmen sind betroffen, auch die Haushalte leiden. Das Münchener Ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut schätzte Anfang Mai 2015 allein die summierten täglichen Kosten für Pendler als Folge der Bahnstreiks auf 4,8 Milliarden Euro. Unter dem Strich drosselt ein Ausstand von mehr als zehn Tagen bei der Bahn das hiesige Bruttoinlandsprodukt im betreffenden Quartal um 0,1 Prozentpunkte, hat Jörg Krämer errechnet, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Kurzum: Die Konjunktur erleide sichtbare Bremsspuren. So jedenfalls die Warnungen.
Auf den ersten Blick leuchten solche Berechnungen ein, auch wenn sie in der Praxis nicht präzise zu beziffern sind. Denn die deutsche Industrie transportiert tagtäglich riesige Warenmengen über die Schiene, und Vieles davon ist wegen gesetzlicher Vorschriften sogar an diesen Transportweg gebunden. Hier ein Auszug aus der täglichen Transportliste:
Allein für die Stahlbranche mit dem Dax-Konzern ThyssenKrupp und dem MDax-Unternehmen Salzgitter, bewegt die Bahn jeden Tag 200.000 Tonnen Güter. Auch jedes zweite Neufahrzeug der Autohersteller hierzulande wird auf der Schiene versandt; die Autoindustrie gehört deshalb neben der Stahlbranche zu den wichtigsten Kunden der Bahn.
Darüber hinaus ist der Wirtschaftszweig der chemischen Industrie einer der Großbesteller beim Schienenunternehmen Bahn: Jährlich werden in Deutschland von 221 Millionen Tonnen transportierter Chemikalien rund 14 Prozent auf der Schiene bewegt.
Doch trotz dieser stattlichen Volumina halten sich die Kosten der jüngsten Streiks vielfach auf Unternehmensebene in Grenzen – trotz der Warnungen der Volkswirte. Das zeigen die Reaktionen der großen Dax-Konzerne im Zusammenhang mit den Tarifkonflikten.
In der Stahlbranche beispielsweise musste kein Hochofen abgeschaltet werden. Auch in der Autobranche konnten BMW, Daimler und Volkswagen die Folgen von neun Lokführerstreiks in zehn Monaten abfangen, wenn auch mit einigem Aufwand. Und mit zusätzlichen Kosten.
Europas größter Autohersteller Volkswagen beispielsweise hat lange vor den jüngsten Streiks auf verschiedene Logistikpartner gesetzt, sagte VW-Sprecher Gunter Sandmann während des GDL-Streiks vor Pfingsten 2015: „Wir gehen im Moment davon aus, dass unsere Vorbereitungsmaßnahmen greifen.“
In VW-Werken wie Emden etwa waren Notfallpläne vorbereitet. „Die Fertigung läuft aktuell“, lautete seinerzeit dann auch die Auskunft des dortigen Werkssprechers Ludger Abeln.
Ähnlich gelassen wie bei Volkswagen war die Reaktion bei Europas größtem Chemiekonzern BASF. Auch dort, in Ludwigshafen, hat eine Task Force bereits Routine in der Vorbereitung auf Streiks wie die der GDL. „Wir setzen schon seit vielen Jahren auf eine vielfältige Strategie, zu der nicht nur die Bahn zählt“, sagt BASF-Sprecherin Ursula von Stetten.
Im Gegenteil, der größte Teil wird mittlerweile anderweitig transportiert: Vom ein- und ausgehenden Güterverkehr der BASF von fast 15 Millionen Tonnen werden 40 Prozent per Schiff bewegt, ein Viertel mit der Bahn sowie dem kombinierten Verkehr mit Lkw.
Im Nahverkehr zwischen ihren Standorten setzt die BASF zudem eigene Güterzüge ein und ist entsprechend nicht auf die Deutsche Bahn AG angewiesen – und deren streikende Lokführer.
Damit ist die BASF kein Sonderfall in der deutschen Industrie. Viele Unternehmen wollen sich längst nicht mehr zu sehr auf die Deutsche Bahn verlassen müssen. Seit Jahren diversifizieren sie ihre Logistik immer weiter und ausgeklügelter. So sinkt die Bedeutung der Deutschen Bahn für den Gütertransport hierzulande insgesamt.
Im Mai 2015 rollen nur noch 17 Prozent des deutschen Güterverkehrs über die Schiene, und die Deutsche Bahn bewältigt von diesen 17 Prozent auch nur noch zwei Drittel. Den Rest hat die Bahn längst an ihre privaten Konkurrenten hierzulande verloren, das sind etwa 300 Betriebe.
Dort gibt es keine Streiks.
Dass die hiesigen Konzerne durvch eigene Anstrengungen die schlimmsten prognostizierten Streikfolgen ausgleichen konnten, bedeutett allerdings nicht, dass einzelne Unternehmen hart davon getroffen werden können. Das gilt sogar für die Dax-Liga der deutschen Unternehmen. Die Lufthansa beispielsweise fällt in dem Vergleich der Streikfolgen durch erhebliche Schäden aus dem Rahmen.
Die Kosten von zwei mehrtägigen Streiks bei Germanwings, LH Passage und Cargo wurden für das erste Quartal 2015 mit 42 Millionen Euro angegeben, zusätzlich 58 Millionen Euro für Buchungsausfälle. Im Vergangenen Jahr belasteten die Streiks bei der Lufthansa das Ergebnis mit 232 Millionen Euro.
Die Streiks waren neben Rückstellungen, Sonderbelastungen aus dem Verkauf der IT-Sparte und höheren Pensionsverbindlichkeiten einer der wichtigsten Gründe, warum die Kranichlinie trotz des zu Jahresbeginn 2015 stark eingebrochenen Ölpreises kein Geld verdiente und die Dividende streichen musste. Für 2014 fiel so nach deutscher Rechnungslegung (HGB) ein Verlust von 732 Millionen Euro an. Und die Lufthansa hat ihre Tarifkonflikte bis Ende Mai 2015 nicht abschließen können.
Unter den Dax-Unternehmen gibt es aber auch ein Beispiel dafür, dass Streiks das Geschäft eines großen Unternehmens nicht nur schädigen müssen. Das trifft auf Daimler zu.
Das Stuttgarter Unternehmen musste seine Lieferketten zwar genauso an die Streik-Ausfälle anpassen wie andere Konzerne und somit ebenfalls Kosten verkraften. Doch Daimler profitiert als Bus-Lieferant wohl langfristig von den Bahn-Streikserien, die das Geschäft der Bus-Linienunternehmen in Deutschland aufschäumen lassen. Dabei sind hierzulande bereits heute, Anfang Juni 2015, an Spitzentagen bis zu 800 Fernbusse im Linieneinsatz. Das sind ein Drittel mehr als noch im September 2014.
Der Bahnstreik-Effekt darauf kann größer ausfallen, als man spontan vermuten könnte. Schließlich haben allein bei den jüngsten GDL-Streiks weitere 500.000 Kunden der Bahn den Rücken gekehrt und sind auf Fernbusse umgestiegen.
Bleiben von diesen Bahn-Frustrierten künftig einige Tausend den alternativen Fernbusanbietern treu, dürften diese zusätzliche Busse für ihren Betrieb benötigen. Und da Daimler hierzulande als Bushersteller mit den Marken Mercedes-Benz und Setra gut 50 Prozent Marktanteil hat, dürften viele dieser Orders für Busse infolge des Lokführerstreiks der GDL bei Daimler landen.
Versinkt Deutschland dann also wirklich im Streik, wie RP-Online am 5. Mai 2015 titelte?
Die Antwort dürfte zweigeteilt sein. Aus dem Kreis der Dax-Unternehmen wurden unter dem Strich keine empfindlichen Betriebsstörungen bekannt. Wohl aber waren geringere Produktionsleistungen durch umgeleitete Komponenten und verzögerte Zustellungen gemeldet worden.
Zudem scheint sich der Planungswaufwand der Konzerne für die Streiktage gelohnt zu haben. Die Schäden aus dem Streik selbst bleiben deshalb offenbar niedriger als die Kosten des Notfall-Planungsaufwands der Unterernehmen für die Streiktage.
Die deutsche Wirtschaft ist in den Streikwellen der ersten Jahreshälfte 2015 also nicht untergegangen, auch wenn einzelne Unternehmen hart getroffen wurden – die Lufthansa etwa.