Es ist offensichtlich, dass ich bei der Überschrift eine Anleihe bei Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ genommen habe. Der hat sich bekanntlich an Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ orientiert. Sowohl bei Goethe als auch bei Plenzdorf stehen innere Konflikte und gesellschaftliche Erwartungen im Zentrum der Erzählungen.
Was hat das mit Aktien zu tun? Stellen wir uns nun für einen Moment vor: der junge Werther würde nicht nur gern Briefe schreiben, sondern sich auch früh in seinem Leben um das Thema „Altersvorsorge“ kümmern wollen, weil er weiß und erkennt, dass die staatliche Rente eines Tages nicht reicht. Doch leider hat er in der Schule nie die Finanzbildung erhalten, die er jetzt dafür bräuchte. Denn dann wüsste er nämlich, dass an Aktien kein Weg vorbeiführt.
Oder stellen Sie sich einen älteren Werther vor, einen, der sich als moderner Investor sieht und die Hauptversammlung von DAX-Konzernen besucht. Innere Konflikte, die Werther bzw. W. damals an gesellschaftlichen Konventionen verzweifeln ließen, könnten heute etwa den Herausforderungen in der Corporate Governance entsprechen – dem ständigen Kampf mit mangelnder Transparenz, unzureichenden Aktionärsrechten und allgegenwärtigen Interessenkonflikten in Aufsichtsräten.
Diese Herausforderungen sind keineswegs abstrakt. Sie prägen den Alltag vieler Aktionäre.Die sehen sich nämlich mit den Schwächen eines Systems konfrontiert, das ihnen allzu oft das Gefühl vermittelt, lediglich geduldet zu sein. Trotz der starken Kursentwicklung des DAX, der aktuell bei über 19.000 Punkten steht, gibt es hierzulande eine Reihe struktureller Probleme, die das Vertrauen in den Kapitalmarkt deutlich strapazieren. Wie können wir diese Probleme überwinden? Wie können wir das Vertrauen in den Kapitalmarkt stärken? Fragen, auf die Deutschland meines Erachtens noch keine zufriedenstellenden Antworten gefunden haben.
Einzelne Persönlichkeiten wie Prof. Christian Strenger von der Frankfurt School of Finance, Ingo Speich von der Deka oder Hendrick Schmidt von der DWS setzen sich unermüdlich für eine bessere Corporate Governance ein. Doch während in anderen Ländern starke Aktionärsgruppen die Rechte der Investoren verteidigen, bleibt es hierzulande bei einzelnen Initiativen und „Einzelkämpfern“, die oft nur begrenzten Einfluss auf die großen Konzerne haben. Dagegen scheint mir die Lobbyarbeit der Bremser durchaus erfolgreich. Dies führt dazu, dass Vorstände und Aufsichtsräte den Kapitalmarkt und seine Signale oft nur sehr widerwillig beachten und respektieren.
Wie wirkt sich das aus? Kritik, die von Aktionären kommt, wird oft ignoriert oder ausgesessen. Hauptversammlungen, die eigentlich DER Ort für den Dialog zwischen Aktionären und dem Management sein sollten, verkommen zu reinen Verlautbarungsveranstaltungen. Die Einführung der virtuellen Hauptversammlung, ursprünglich als Übergangslösung für die Zeit der Pandemie gedacht, werden von vielenUnternehmen mittlerweile als das new normal betrachtet – aber nicht etwa aus Gründen der Effizienz, sondern weil sich dadurch der direkte Kontakt zu kritischen Aktionären vermeiden lässt. Das Aktionaersforum hat dieses Thema in einer Studie bereits im vergangenen Jahr beleuchtet und sich in diesem Jahr wieder die HV-Saison näher angeschaut. Leider war zu beobachten, dass weitere Unternehmen in das virtuelle Format flüchten. Welche? Es sind jene Unternehmen, die es mit der Corporate Governance nicht ganz so ernst meinen. Ein Verhalten das, die deutlich zeigt, wie gering die Bereitschaft in vielen Führungsetagen ist,den Dialog mit den Aktionären, sprich mit seinen Eigentümern, zu suchen. Zwar werden Unternehmen wiederholt dazu aufgerufen, ihre Aktionäre offen und klar zu informieren, aber oft bleibt es bei Lippenbekenntnissen.
Deshalb war ich erfreut, als in der FAZ am 12. September ´24 zu lesen war: „Aktieninstitut für Reform de Hauptversammlung“. Das deutsche Aktieninstitut setzt sich nach eigenem Selbstverständnis für die Aktie ein, so kann man es auf der Homepage lesen. Die Studie,die das Aktieninstitut mit Unterstützung einer renommierten Anwaltskanzlei vorgelegt hatte, kommt zum Ergebnis, dass das deutsche Beschlussmängelrecht Schuld daran sei, dass bei HVs nicht offen diskutiert wird, behaupten die selbsternannten Aktienförderer. Aus Angst, Fehler zu machen, würden sich Vorstände und ARs in ein starres HV-Korsett flüchten. Ein offener Austausch sei nur ohne Angst vor juristischen Folgen möglich. Deshalb müssten die Hürden für Anfechtungsklagen im Beschlussmängelrecht deutlich erhöht werden.
Gewiss, in etlichen Ländern gibt es kein so strenges Beschlussmängelrecht wie hierzulande.Dafür müssen Vorstände bei Managementfehlern dort aber sehr viel stärker gegenüber den Aktionären haften als hierzulande. Und sie haben es auch mit Aufsichtsbehörden mit starken Durchgriffsrechten wie die SEC zu tun. Von beidem ist in der Studie des Aktieninstituts aber nichts zu lesen.
Noch höhere Hürden für Anfechtungsklagen mögen die Work-Life-Balance Leben für Vorstände und Aufsichtsräte vielleicht noch angenehmer werden lassen, ansonsten wäre das aber fatal. Die Kontrolle der Unternehmen durch den Kapitalmarkt, ein fundamentales marktwirtschaftliches Element, würde noch mehr leiden. Dabei ist sie hierzulande ohnehin nicht sehr stark ausgeprägt.
Aber nicht nur die Unternehmen selbst tragen Verantwortung, den deutschen Kapitalmarkt zu stärken. Auch die Politik ist in der Pflicht – und hat bisher versagt. Seit Jahren warten wir darauf, dass die Politik die Bedeutung eines gut funktionierenden Kapitalmarkts erkennt und entsprechende Gesetze erlässt. Stattdessen haben wir es mit Fehlkonstruktionen wie dem StaRUG zu tun – einem Gesetz, das es erlaubt, Minderheitsaktionäre faktisch zu enteignen. Die Beispiele von Leoni und Varta sind bittere Belege dafür, wie dieses Gesetz dazu führt, dass die Rechte der Aktionäre weiter geschwächt werden. Dies liegt auch daran, dass viele Politiker dem Aktienmarkt kritisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Olaf Scholz sagte einmal, er lege sein Geld lieber auf einem Sparbuch an, und Robert Habeck gab zu Protokoll, keine Aktien zu besitzen. Wohlgemerkt, hierbei handelt es sich um den aktuellen Kanzler und Vize-Kanzler. Solche Aussagen zeigen, wie tief die Skepsis gegenüber dem
Kapitalmarkt in Deutschland verwurzelt ist. Kein Wunder, dass die Diskussion um die Aktienrente in Berlin auf einem Niveau geführt wird, bei dem man in jeder Bachelorprüfung hochkantig durchfallen würde.
Der Preis, den wir alle für diesen Dilettantismus bezahlen, ist gewaltig: Die Deutschen sparen zwar wie die Weltmeister, aber wie sie investieren, kann man nicht mal amateurhaft nennen. Die Aktien-Zurückhaltung führt dazu, dass wir im Durchschnitt ärmer sind, als viele glauben. Die Allianz hat gerade ihren Bericht zum Vermögen in der Welt vorgelegt: Das durchschnittliche Geldvermögen der Deutschen ist 2023 gegenüber 2022 demnach um 9,2 Prozent gestiegen, soweit so gut. Damit kommen wir auf gut 69.000 Euro pro Kopf.Frankreich hat mehr, 72.380,-, Irland hat mehr, 74.450,- und Italien hat auch mehr, 76.930,- Die USA sogar viel mehr: 260.320,-, die Schweiz fast so viel mit 255.440,-. Wenn in Talkshows immer wieder gesagt wird, die Deutschen seien so reich, dann gehört das in den Bereich der Fake News.
Die Skepsis gegenüber Aktien ist aber nicht nur auf die Politik beschränkt. Auch in den Führungsetagen großer Unternehmen herrscht oft eine distanzierte bis blehnende Haltung gegenüber den Aktionären. Diese vielfach anzutreffende Einnstellkung kann man wie folgt beschreiben: Nicht die Börse und die Aktionäre wissen, was für unser Unternehmen gut ist, sondern wir, Vorstand und Aufsichtsrat. Ein negatives Beispiel dafür ist Bayer, das trotz deutlicher Warnungen von Aktionären 2016 den Monsanto-Deal durchgezogen hat – mit verheerenden Folgen. Der Aktienkurs stürzte von davor noch 120 Euro auf derzeit etwa 30 Euro ab. Doch Bayer ist kein Einzelfall. Auch ThyssenKrupp hat die Warnungen des Kapitalmarkts über Jahrzehnte ignoriert und ist mit einem Aktienkurs von einst 45 Euro auf jetzt 3 Euro abgestürzt. Inzwischen scheint mir der Konzern eher ein Fall für den Denkmalschutz als für die Börse. Diese Fälle zeigen, wie gefährlich es sein kann, den Austausch mit Aktionären als lästige Pflicht zu betrachten, anstatt diese als strategische Partner, Impulsgeber und Korrektiv zu sehen.
Ein weiteres Defizit, das in diese Anti-Kapitalmarkt-Orientierung passt, sind die Strukturen, die viele Unternehmen entwickelt und über die Jahre perfektioniert haben, um den Einfluss der Aktionäre zu minimieren. Ob stimmrechtslose Vorzugsaktien wie bei Volkswagen oder Stiftungen wie bei ThyssenKrupp und Merck – diese Konstrukte machen es den Aktionären schwer, echte Mitbestimmung auszuüben. Das untergräbt nicht nur das Vertrauen der Investoren, sondern mindert auch die Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts für internationale Anleger.
Die Misere wird durch einen weiteren Faktor komplettiert: Den „Governance-Discount-Effekt“ bei vielen Unternehmen, ein problematisches Verständnis von Corporate Goverance. Nehmen wir das Beispiel Volkswagen: Ein Unternehmen, das vielleicht formal den Prinzipien moderner Corporate Governance zu folgen scheint, tatsächlich aber in der Praxis oftmals hinter diesen Standards zurückbleibt. Viele VW-Aufsichtsräte reklamieren Unabhängigkeit für sich, obwohl sie in Wahrheit in erheblichem Maße voreingenommen sind – wie Prof.Christian Strenger in einem Beitrag in der Börsen-Zeitung Anfang September überzeugend dargelegt hat.
Das Urteil des Kapitalmarkts über Volkswagen fällt entsprechend hart aus: Ein Kurs-Gewinn- Verhältnis (KGV) von rund 4 zeigt, dass das Unternehmen weit hinter der Konkurrenz zurückbleibt. In den vergangenen drei Jahren hat der Aktienkurs nur eine Richtung gekannt – nach unten. Der Kurs liegt bei deutlich unter 100 Euro bei den Vorzugsaktien, der Konzern ein Sanierungsfall – und die Vorzugsaktionäre sind völlig machtlos. Vielleicht sollte die Deutsche Börse doch mal darüber nachdenken, ob ein solches Unternehmen im Vorzeigeindex DAX 40 notiert bleiben sollte.
Sicherlich nicht hilfreich für eine stärkere Kontrolle des Managements ist der sehr passivlastige Aktienmarkt hierzulande. Inzwischen erfolgt fast die Hälfte 50 der neuen Aktienanlagen in Deutschland über ETFs. Diese passive Investitionsstrategie schwächt die Kontrolle des Managements durch den Kapitalmarkt weiter. Während in den USA oder Großbritannien Fehler im Management oft schnell zu CEO-Wechseln oder Übernahmen führen, bleibt diese Dynamik in Deutschland weitgehend aus. Hierbei liegt eine große Gefahr: Wenn Fehler unentdeckt bleiben, können sie das Vertrauen in den gesamten Markt beschädigen.
Was also können wir tun, um die Situation zu verbessern? Wir brauchen eine bessere Aktienkultur in Deutschland. Doch wie erreichen wir die? Durch Bildung. Finanzbildung muss bereits in der Schule beginnen, um das Bewusstsein für die Bedeutung des Kapitalmarkts zu schärfen. Es reicht aber nicht aus, auf das „Planspiel Börse“ der Sparkassen zu verweisen – wir brauchen eine systematische finanzielle Bildung, die bereits in jungen Jahren ein tiefes Verständnis für den Kapitalmarkt vermittelt. Doch Bildung allein reicht nicht. Es bedarf auch endlich des politischen Willens, Gesetze zu schaffen, die die Rechte von Aktionären stärken und den Unternehmen klare Leitplanken setzen, um Missbrauch zu vermeiden. Und eine ufsichts- und Kontrollbehörde, die auch wirklich greift. Nicht wie bei Wirecard…