Es ist ein Spektakel. Gelblich heiß glüht der Stahl, der in die Maschine gezogen wird, die so groß, wie die Werkshalle in Duisburg-Rohrort lang ist. Die Luft flirrt über dem sengenden Stab. Am Ende wird aufgewickelter Draht daraus produziert sein, und davon schafft die Anlage von ArcelorMittal nicht weniger als 120 Meter in der Sekunde; die so genannte Drahtstraße in Duisburg gilt als die modernste der Welt.
Erst im Frühjahr 2013 ist sie fertig geworden, etwa seit Mitte 2014 läuft sie voll. Rund 135 Millionen Euro hat sich der Stahlkonzern die Anlage kosten lassen.
Jetzt, etwa ein Jahr danach, am 13. August 2015, steht Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) in den Ruhrorter Werkshallen von ArcelorMittal, in der auch die Großinvestition installiert worden ist. Er spricht mit der Werksleitung, auch Betriebsräte sind da.
Niemandem ist so recht zum Feiern zumute.
Duin hat hier heute einen Krisengipfel anzukündigen. Denn die EU-Kommission plant Änderungen im Umweltrecht, die Europas Stahlbranche in Aufregung versetzt. Die deutschen Unternehmen mitten drin.
„Die Vorschläge sind ein Risiko für den Stahlstandort Europa“, sagt etwa Karl-Ulrich Köhler, der Europachef des indischen Branchenriesen Tata Steel gegenüber der Zeitung Welt. Sie würden zum Schrumpfen der Branche führen.
„Die Vorschläge“. Was nur noch indirekt ausgesprochen wird Ende August 2015, ist das, was die EU-Kommission für den künftigen Handel mit Emissions-Zertifikaten vorgeschlagen hat: Die verfügbaren Verschmutzungsrechte sollen jährlich schneller verknappt werden als bisher, nämlich ab dem Jahr 2021 um jährlich 2,2 Prozent, statt wie bisher alle zwölf Monate um 1,74 Prozent. Und die Zertifikate sollen zugleich teurer werden.
Im Kalkül der EU-Beamten würden die Unternehmen dann schon irgendwie selbst dafür sorgen, dass die Anlagen weniger Dreck in die Luft pusten – und die EU ihr Ziel erreicht, bis zum Jahr 2030 stolze 40 Prozent weniger Emissionen als im Jahr 1990 im Himmel zu messen.
Im Kalkül der Unternehmer indes rufen „die Vorschläge“ bisher andere Reaktionen hervor. „Wenn ich vor dem Tata-Aufsichtsrat in Indien über den Emissionshandel in Europa spreche, ist es für die Kollegen dort sehr schwer nachzuvollziehen, warum Europas Politik die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Stahlhersteller untergräbt“, sagte Tata-Manager-Köhler der Welt.
So steht Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Garrelt Duin am 13. August 2015 irgendwie auch ein bisschen verloren in den Bauten auf dem ArcelorMittal-Gelände mit der großen, neuen 135-Millionen-Euro-Stahlverarbeitungsmaschine. Er spricht von Klima und Industrie, auch davon, dass man „nicht europäischen Klimaschutz macht nach dem Motto: Wenn die Industrie abwandert, ist Gutes für das Klima getan.“
Dann kündigt er für Herbst 2015 den Gipfel an. In Düsseldorf, nicht in Duisburg. Schon das ist ein Zeichen.
Am Sitz der Landesregierung Nordrhein-Westfalens, auch des Landes-Parlaments, sollen sich die Vorstände der Stahlunternehmen und ihre Betriebsräte versammeln. Zudem Gewerkschafter. Und alle Europaabgeordneten aus NRW.
Auf dem Gipfel werde gemeinsam gesprochen über die „massiven Auswirkungen“ der Vorschläge auf den Industrie-Standort. „Wir brauchen eine breitere Wahrnehmung für die Klimapolitik“, sagt Duin.
Die Wahrnehmung der möglichen EU-Klima-Vorgaben in der Stahlbranche und bei ihren Aktionären ist schon jetzt deutlich:
Die Stahlkocher und Verarbeiter fürchten empfindliche Mehrkosten, zumal die Änderungen sie härter als die meisten anderen Branchen treffen würden. Vor allem jene deutschen Firmen wie ThyssenKrupp und Salzgitter sowie Weltmarktführer ArcelorMittal sind alarmiert, die noch stärker mit der klassischen Hochofen-Technik arbeiten und dabei viel Kohle einsetzen.
Mittlerweile ist die Industrie mit ihrer Furcht nicht mehr allein.
„Auf die deutsche Stahlindustrie könnte eine existenzbedrohende Kostenlawine zukommen, wenn die EU-Kommission ihre Klimaschutzpolitik durchsetzt“, sagte die saarländische Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger (SPD) der Saarbrücker Zeitung am 20. August 2015.
Die Salzgitter AG etwa, Deutschlands zweitgrößter Stahlkonzern nach ThyssenKrupp, müsste in diesem Fall nach eigenen Angaben in den Jahren von 2021 bis 2030 bis zu 40 Prozent an Co2-Zertifikaten zukaufen.
„Die zusätzlichen Kosten dafür liegen bei mehr als 100 Millionen Euro“, sagte Salzgitter-Chef Heinz Jörg Fuhrmann der Braunschweiger Zeitung am 22. August 2015. „Wenn der Kommissionsvorschlag so umgesetzt wird, ist das eine ganz krasse Existenzbedrohung für uns“, zitiert ihn dazu auch das Industrie Magazin.
Nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung Stahl würden die deutschen Stahlunternehmen insgesamt bis zum Jahr 2013 mit zusätzlichen Kosten von jährlich rund einer Milliarde Euro belastet.
Die EU-Klimapläne führten deshalb „für die im weltweiten Wettbewerb stehende Stahlindustrie in Deutschland zu untragbaren Mehrbelastungen“, sagt Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl.
Die Industrieverbände sind auch deshalb erzürnt, weil der Reformvorschlag der EU-Kommission unter anderem vorsieht, für energie-intensive Industrien wie Stahl, Zement und Chemie künftig weniger Ausnahmen von der strengen Regulierung als bisher zu genehmigen.
Das heißt, selbst mit hohen Investitionen wie in die neue Drahtstraße in Duisburg-Ruhrort, würde es für hiesige Stahlkocher künftig immer schwieriger, die ohnehin nicht gut ausgelasteten Kapazitäten in Europa profitabel zu betreiben.
„Der neue Reformvorschlag der EU-Kommission darf so nicht umgesetzt werden“, forderte wohl auch deshalb der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am 22. Augst 2015 im Handelsblatt.
Auch bei Chemieriesen wie Bayer und BASF verfolgt man genau, was in Brüssel geplant und diskutiert wird. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hat in einer Stellungnahme zu der Neuregelung die zusätzlichen Kosten aus der geplanten Verteuerung der Zertifikate mit 2,2 Milliarden Euro jährlich veranschlagt, und das alleine für die CO2-Kosten im Strom.
Hinzu komme der Zukauf von Zertifikaten mit jährlichen Mehrkosten von 240 Millionen Euro.
Selbst technisch hochgerüstete Anlagen seien vor Mehrkosten nicht sicher, wie der VCI vorrechnet. Demnach ergibt sich der Umfang der kostenlosen Zuteilung im Emissionshandel auf Grundlage „der historischen Produktionsdaten und festgelegten Produktbenchmarks.“
Die 10 Prozent der technisch modernsten Anlagen sind demnach die Messlatte. Was bedeutet, dass 90 Prozent aller Anlagen, die ein vergleichbares Produkt herstellen, mehr emittieren, als ihnen an Zertifikaten zugeteilt wird.
„Dadurch hätte unsere Branche einen krassen Wettbewerbsnachteil, wenn es keine entsprechende Kompensation gibt“, sagt Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Deutschlands Chemieindustrie ist nach VCI-Angaben die bedeutendste in Europa, in der ersten Jahreshälfte 2015 beschäftigten die Unternehmen hierzulande 447.000 Menschen.
Mittlerweile schlagen auch Aktionärsschützer und Analysten Alarm. Wenn trotz erheblicher Investitionen in die Modernisierung von Werken in Europa das Geschäft auf diesem Kontinent schwieriger wird, drohten noch mehr Kapazitäten der Stahlbranche in die großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China (BRIC) abzuwandern. Doch dort niste sich derzeit eine Wachstumsflaute ein.
Das sind denkbar schlechte Aussichten für weitere Ausweich-Investitionen in der BRIC-Gegend und damit für Wachstum, Gewinne und Dividenden der hiesigen Stahlunternehmen. Nach Expertenmeinung dürften deshalb auch die Kurse der Stahlaktien hierzulande im Sommer 2015 in der Korrektur an den Börsen besonders stark unter Druck geraten sein.
Alleine in den zwei Wochen zwischen dem 11. und 25. August 2015 sank etwa der Preis der ThyssenKrupp-Titel um 21 Prozent auf 19,50 Euro. Die Anteilscheine von Salzgitter verbilligten sich in dieser Zeit um 18 Prozent auf 27,40 Euro.
Und das, obwohl etwa ThyssenKrupp nach einer der schwersten Krisen in der Konzerngeschichte im vorigen Finanzjahr 2013/2014 erstmals wieder eine Dividende zahlte. Und der zweitgrößte deutsche Stahlkonzern Salzgitter im März 2015 erklärt hatte, seine Ausschüttung dank eines vorherigen strikten Sparprogramms stabil zu halten.
Doch Analysten geben zu bedenken: Entweder investieren die deutschen Stahlkocher noch mehr in die Modernisierung ihrer bestehenden Anlagen, was wenigstens zu Lasten der Ausschüttung an die Aktionäre ginge. Oder sie passen die nächste gute Gelegenheit ab, weiter in den großen Schwellenländern zu wachsen. Der Erfolg daraus aber könnte viele Monate auf sich warten lassen und bis dahin eine Dividendenpause zur Folge haben, warnen wiederum Aktionärsvertreter.