Das haben Deutschlands Anleger und Börsianer lange nicht erlebt. Fast wie im Boom zur Jahrtausendwende drängen Ende September 2015 neue Unternehmen an die Börse. Dabei war schon der Start ins Jahr besser als in vielen vergangenen: In den ersten drei Quartalen 2015 wagten nach Angaben des Beratungshauses EY bereits acht Konzerne den Sprung auf das hiesige Parkett, und zwar mit einem Gesamtvolumen von drei Milliarden Euro.
Nun aber kommen die Dickschiffe. Eigentlich.
Allein Covestro wird voraussichtlich die größte Emission seit der Deutschen Post Ende des Boom-Jahres 2000. Diese Abspaltung des Kunststoff- und Klebergeschäfts von Bayer wird mit künftig etwa sieben Milliarden Euro Wert schon als Dax-Kandidat gehandelt. Allerdings nur, wenn der Börsengang wie geplant Anfang Oktober 2015 klappt. Denn das Börsenwetter ist plötzlich rauh geworden.
Der Dax hat von mehr als 12.000 Punkten Ende April 2015 auf 9400 Zähler Ende September 2015 korrigiert. Die Dax-Volatilität ist auf Messwerte von zwischenzeitlich mehr als 30 gestiegen, und schon ab Werten um die 20 werden Börsianer nervöser. Nicht zuletzt der VW-Skandal um manipulierte Abgaswerte mancher Diesel-Motoren hat dazu beigetragen. Entsprechend wird hinter den Kulissen gerungen, um die Börsengänge wenigstens in weiten Teilen wie geplant über die Bühne zu bringen.
Das ist ärgerlich beispielsweise für Covestro, weil es nach Expertenmeinung gut für den Gang aufs Parkett vorbereitet sei – wie die anderen aktuellen Börsenkandidaten auch. So gut sogar, dass das gesamtwirtschaftliche Umfeld künftig nur bedingt den Geschäftsverlauf des Unternehmens beeinflussen dürfte, sagen Branchenkenner.
Der Spin-off der Kunststoffsparte von Bayer hätte dann auch bei einem angepeilten Erlösvolumen von 2,5 Milliarden Euro mit dem zweiten Börsenkandidaten, Schaeffler, um die Krone des größten IPO in Deutschland seit dem Boom-Jahr 2000 konkurrieren sollen. Und nun das.
Bis eine Woche vor dem Börsengang am 2. Oktober 2015 haben sich laut Insidern offenbar noch nicht genügend Anleger eingetragen, um das Orderbuch ganz zu füllen. Dabei ist nach Expertenmeinung eigentlich eine mehrfache Überzeichnung nötig, um die neuen Titel wie gewünscht breit streuen zu können. „Natürlich hätte man sich ein etwas besseres Börsenklima gewünscht“, zitiert die Schweizer Finanz und Wirtschaft etwa Klaus Fröhlich, der bei Morgan Stanley das Kapitalmarktgeschäft für Deutschland und Österreich leitet.
Wenn der Covestro-Börsengang nicht kleiner als geplant ausfällt, zu einem niedrigeren Preis durchgedrückt oder gar ganz verschoben werden soll, müsste also noch ein Nachfrageschub einsetzen. Ob der noch kommen wird?
Andere Aspekte des Börsengangs drücken womöglich zusätzlich auf die Kauflust der Covestro-Investoren. Denn Bayer hat seiner ehemaligen Sparte ein dickes Paket aus mehreren Milliarden Euro Schulden mit auf den Weg gegeben. Darauf macht Covestro seine neuen Investoren ausdrücklich im Börsenprospekt aufmerksam: „Die Gruppe wird erhebliche Schulden haben, die sich im wesentlichen Maße nachteilig auf das Geschäft auswirken können.“
Die Erfahrungen der Anleger großer Publikumsfirmen mit ihren Spin-offs sind darüber hinaus sehr unterschiedlich. Als Erfolgsgeschichte gilt die Covestro-Schwester Lanxess, die erste große Abspaltung des Bayer-Konzerns in den vergangenen Jahren. Lanxess ist Ende September 2015 das 2,65-Fache dessen an der Börse wert, was das Unternehmen bei seinem Börsendebüt am 31. Januar 2005 auf die Waage brachte. Damals galt Lanxess schlicht als Bayers Resterampe.
Osram beispielsweise, das lange zu Siemens gehört hatte, erwies sich nur Monate nach dem Börsengang als Sanierungsfall. Noch im Mai 2015 zitierte die Süddeutsche Zeitung Osram-Chef Olaf Berlien mit der Aussage, er könne „keinem eine Job-Garantie geben.“ Doch Ende September 2015 führte Osram die Liste der MDax-Gewinner an, weil es die Beteiligung an der börsennotierten Foshan Electrical and Lighting Co (Felco) mit einem Gewinn von 300 Millionen Euro verkauft hat.
Anleger sollten bei Spin-offs also zumindest auf zwischenzeitlich deutlich ausschlagende Kurse ihres neuen Investments gefasst sein.
Auch der fränkische Auto- und Industriezulieferer Schaeffler leidet mit seinen Börsenplänen unter dem Debakel von VW. Das Schaeffler-Börsendebüt, das bisher für den 5. Oktober 2015 geplant ist, hat dadurch Terminprobleme bekommen: Die Veröffentlichung der Preisspanne verzögert sich offenbar um einige Tage. „Die VW-Geschichte belastet den Börsengang”, zitiert die Verkehrsrundschau dazu verantwortliche Manager bei Schaeffler.
Wenn der Börsengang dennoch ein Erfolg wird, kann sich die Eigentümerfamilie auf einen Erlös von rund drei Milliarden Euro freuen. Sie trennt sich dafür von bis zu 100 Millionen Vorzugsaktien.
Schaeffler will mit dem Erlös einen Teil seines Schuldenberges abtragen, und der ist immer noch hoch. Denn das Unternehmen hatte sich auf dem Höhepunkt der Finanzkrise fast mit seinem Versuch verhoben, den Autozulieferer Continental zu übernehmen. Seitdem ist Schaeffler Großaktionär bei Continental, hat in der AG aber Schulden von 6,2 Milliarden Euro. Die sollen nun durch den Börsengang bis 2018 um etwa eine Milliarde Euro reduziert werden.
Jetzt allerdings ist nicht nur fraglich, ob der finanzielle Befreiungsschlag mit dem Börsengang in diesem gewünschten Umfang gelingt.
Schaeffler leidet abseits des Börsenumfelds auch unter der Flaute in China, dessen Automarkt im Jahr 2015 zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt auf die Standspur gewechselt ist. Im Sommer 2015 wurden drei Monate hintereinander rückläufige Verkaufszahlen auf dem Automarkt der Volksrepublik registriert. Auch Volkswagen ist davon betroffen, und somit indirekt auch Schaeffler. Denn das Familienunternehmen zählt den Wolfsburger Konzern zu seinen großen Auftraggebern.
Dennoch wird Optimismus verbreitet: „Trotz der leichten Abschwächung in den Sommermonaten sind wir auf einem guten Weg, unser Geschäft auch in diesem Jahr weiter auszubauen und so unseren langfristigen, profitablen Wachstumskurs fortzusetzen“, zitierte das Unternehmen Vorstandschef Klaus Rosenfeld in seiner Halbjahresbilanz für 2015, der zufolge der Gesamtumsatz zum Vorjahr um 12,4 Prozent anstieg.
Neben dem Verkauf von 100 Millionen Vorzugsaktien der Familie ist die Ausgabe von 66 Millionen neuen Vorzugsaktien geplant. Zugreifen können zunächst nur institutionelle Investoren, die auf die Zusage setzen, dass künftig bis zu 35 Prozent des Jahresüberschusses als Dividende ausgezahlt werden. Losgehen soll es damit schon im laufenden Jahr 2015.
Der dritte im IPO-Bunde ist Hapag-Lloyd. Die größte deutsche Container-Reederei plant ihr Debüt an der Frankfurter Wertpapierbörse bis Mitte November 2015. Die Hamburger starten damit bereits den dritten Anlauf für ihren Börsengang: Im Jahr 2004 hatte der damalige Mehrheitsaktionär Tui die Börsen-Pläne von Hapag-Lloyd kassiert. Im Jahr 2011 stolperte das Unternehmen dann über den nächsten IPO-Fehlversuch: Das Erdbeben in Japan mit dem Atomunglück in Fukushima störte damals auch das Börsenklima.
„Wir brauchen drei oder vier erfolgreiche Quartale, um einen Börsengang überhaupt erst möglich zu machen“, zitiert die Welt den Hapag-Lloyd-Chef Rolf Habben Jansen. Und auch jetzt muss Hapag-Lloyd wieder der aktuellen Flatter-Börse Tribut zollen. Der nunmehr anstehende dritte Debüt-Anlauf musste wegen des eingetrübten Börsenklimas bereits kleiner konfektioniert werden.
Hapag-Lloyd will bei den Aktionären nunmehr umgerechnet 446 Millionen Euro einsammeln. Ob das reicht für die Erweiterungspläne? Hapag-Lloyd braucht nach eigenen Angaben unter anderem ein halbes Dutzend große Containerschiffe mit Platz für 18.000 bis 20.000 Containern. Die Reederei hat sich mit mehreren Partnern zu der Allianz G6 zusammengeschlossen, um unter anderem gemeinsam die großen Schiffe einzusetzen.
In einem schwierigen Container-Reederei-Markt, der von Konzentration, flauem Welthandel und Überkapazitäten gedrosselt wird, hatte Hapag-Lloyd im vergangenen Jahr 2014 mit der Containersparte der CSAV fusioniert. Die Hamburger liefern sich mit dem taiwanesischen Konkurrent Evergreen im Jahr 2015 ein Wettrennen um Rang vier der weltgrößten Reedereien.
Kleinere IPO-Brötchen muss auch der vierte Kandidat backen, das Internet-Kleinanzeigen-Portal Scout24. Das Unternehmen sah sich gezwungen, kurz vor dem großen Tag die Preisspanne für den Börsengang zu verringern. Ursprünglich war geplant, die Aktien in einer Bandbreite von 26,50 bis 33 Euro unter das Börsenvolk zu bringen. Jetzt sind es 29,50 bis 31 Euro.
Scout24 kann sich immerhin freuen, dass die Auftragsbücher Insidern zufolge im unteren Bereich der Preisspanne mehr als gefüllt sind. Das Debüt ist für den 1. Oktober 2015 an der Frankfurter Börse geplant.
Über einen guten Teil des anvisierten IPO-Erlöses von bis zu 1,63 Milliarden Euro werden sich dann die Alt-Investoren von Scout24 freuen: Die Finanzinvestoren Hellman & Friedman und Blackstone sowie die Deutsche Telekom, die gemeinsam mindestens 21 Millionen Aktien an die Frau und den Mann bringen wollen.
Insgesamt haben die hiesigen Börsengänge der Jahre 2014 und 2015 offenbar viel Geld auf das Konto der Anleger gespült. „11 Prozent Kursgewinn waren bei den letzten Börsengängen im Schnitt am ersten Tag zu erzielen. Per Saldo heute sind es innerhalb eines Jahres sogar 17 Prozent Plus“, zog Martin Steinbach zum Ende September 2015 gegenüber der ARD Bilanz; er ist bei der Beratungsgesellschaft EY Experte für Börsengänge.