Der Münchener Industriegasekonzern Linde ist bei den Aktionären in Ungnade gefallen. Im Dezember 2015 erlitt die Aktie des Dax-Mitglieds den schwersten Einbruch seit vierzehn Jahren. Binnen Tagen sank die Bewertung von 170 auf 130 Euro je Aktie. Der Auslöser des Abverkaufs war die Drosselung der mittelfristigen Prognose – zum zweiten Mal in diesem Jahr.
„Es gibt zwar keine Stornierung, aber die Kunden scheuen auch, neue Aufträge zu unterschreiben“, sagte Vorstandschef Wolfgang Büchele Anfang Dezember.
Der Linde-CEO kündigte zwar für 2016 eine verbesserte Auftragslage an, doch räumte er ein, dass das Niveau der Vergangenheit vorerst nicht erreicht werde. Bei Ausbleiben einer Besserung drohe Stellenabbau. Die zuletzt reduzierte Prognose sieht so aus: nur noch ein operatives Ergebnis zwischen 4,2 und 4,5 Milliarden Euro für 2017, anstatt den zuvor angekündigten 4,5 bis 4,7 Milliarden Euro. Auch die Rendite auf das eingesetzte Kapital musste leicht zurückgenommen werden.
Für den wachsenden Druck auf das Geschäft von Linde gibt es mehrere Gründe. Im US-Gesundheitsgeschäft gehen die staatlichen Leistungen zurück. Linde-Chef Büchele warnt selbst davor, dass die US-Regierung den Rotstift in den Jahren 2016 und 2017 stärker ansetzen könnte als bisher gedacht.
Die stark reduzierten Energiepreise belasten zudem die amerikanische Fracking-Industrie, in der deshalb Investitionen kräftig gestutzt werden, und das wirkt sich auf das Anlagenbaugeschäft von Linde aus: Die in diesem Bereich einst erwarteten Orders aus der Petrochemie bleiben derzeit teils aus. Der Auftragseingang im Anlagenbau hat Linde zufolge im ausklingenden Jahr 2015 nicht einmal die Hälfte des Vorjahrs erreicht. Er beziffert sich auf 1,1 Milliarden Euro. Schnelle Besserung ist nicht in Sicht.
Nach Meinung der Analysten von Goldman Sachs könnte der Ölpreis für die Sorte WTI in 2016 noch auf 20 Dollar je 159-Liter Fass fallen, anstatt schnell zuzulegen. „Bei einem milden Winter, einem langsameren Wachstum in den Schwellenländern und der potenziellen Aufhebung der Iran-Sanktionen könnten die Lagerbestände weiter steigen“, schreiben die Analysten der Bank. Die Ölpreise würden bei in etwa konstanter Nachfrage entsprechend sinken.
Unter dem Strich kämpft das Dax-Mitglied Linde deshalb gegen mehrere Probleme an, denn rund um den Globus schwächelt oder lahmt die Industriekonjunktur: Japan erlebt die fünfte Rezession in sieben Jahren, die US-Wirtschaft wächst deutlich langsamer, in China lässt die generelle Dynamik des Wachstums sichtbar nach, auch in der Euro-Zone geht es kaum voran. Und in manchen einst gepriesenen Schwellenländern herrscht gar Katzenjammer: Russland beispielsweise steckt in einer Rezession. Und Brasilien erlebt nach dem Eindruck einiger Beobachter sogar eine Depression, in der die bis Anfang des Jahrzehnts rasch gewachsene Mittelschicht des Landes schon wieder schrumpft.
Hinzu kommt, dass der französische Gasehersteller Air Liquide eine Übernahme bekannt gegeben hat, mit der er an Linde vorbeiziehen und den Deutschen die Krone in dieser Branche abnehmen wird. Air Liquide will, die Schulden eingerechnet, für 12,5 Milliarden Euro die amerikanische Airgas übernehmen. Das würde dem Linde-Rivalen nicht nur einen starken Ausbau des US-Geschäfts erlauben. Air Liquide würde auch dem Umsatz nach zum weltweit größten Hersteller von Industriegasen aufsteigen.
Airgas war in den vergangenen 30 Jahren durch gezielte Zukäufe zahlreicher kleiner Firmen größter Gasehersteller in den USA geworden, mit einem jährlichen Umsatz von umgerechnet 4,82 Milliarden Euro, von denen 98 Prozent auf dem heimischen Markt in den USA verdient werden.
Linde selbst hatte im Jahr 2006 gegen seinen Dauerrivalen Air Liquide mit der Übernahme des britischen Konkurrenten BOC gepunktet und stieg seinerseits zur Weltspitze auf. Ein Jahr später schlugen die Franzosen zurück. Sie verleibten sich den deutschen Anlagenbauer Lurgi ein.
Linde galt im Geschäftsjahr 2014 mit 17 Milliarden Euro gegenüber 15,4 Milliarden Euro bei Air Liquide als Weltmarktführer. Doch mit der angekündigten Übernahme von Airgas wendet sich das Blatt jetzt wieder zu Gunsten der Franzosen.
Linde kann nun seinerseits mit einer Übernahme oder mit der Expansion in neue Geschäfte antworten. Doch für große Übernahmen gibt es kaum Ziele. Zu den wenigen zählen das deutsche Unternehmen Messer, die japanischen Taiyo Nippon Sanso (TNS) und der amerikanische Wettbewerber Praxair. Doch jede dieser Übernahmen würde möglicherweise die Kartellwächter auf den Plan rufen. So war bereits 1999 der Versuch des Linde-Konkurrenten Air Liquide gescheitert, sich BOC zu schnappen. Die Wettbewerbshüter hatten dagegen Einspruch eingelegt.
Linde scheint eher den anderen Weg zu gehen und sich neue Standbeine aufzubauen. Der forcierte Aufbau des Bereichs Gesundheitswesen hat zu einem Umfang geführt, der schon einem Viertel des Gasegeschäfts entspricht. Vor drei Jahren wurde die europäische Homecare-Sparte von Air Products übernommen, ebenso die amerikanische Lincare.
Anfang Dezember 2015 gab Linde zudem bekannt, das US-Unternehmen American HomePatient zu übernehmen. Das Medizingeschäft wird also zügig weiter wachsen. Angesichts der raschen Vergreisung westlicher Gesellschaften macht dies durchaus Sinn. American HomePatient ist auf Patienten mit Atemwegserkrankungen spezialisiert. Die Übernahme soll im ersten Quartal 2016 abgeschlossen werden.
„Mit der Akquisition bauen wir unsere Position als weltweite Nummer eins in diesem Bereich für Gesundheitsdienstleistungen weiter aus“, ließ sich Vorstandschef Wolfgang Büchele im Zuge der Bekanntgabe der Übernahme zitieren.
Mit Lincare war Linde bereits zum wichtigsten Anbieter für häusliche Versorgung atemwegserkrankter Patienten in den USA aufgestiegen. Mit der Übernahme von American HomePatient wächst die Zahl der betreuten Patienten dem Unternehmen zufolge auf deutlich mehr als eine Million an.
Dennoch: Die Airgas-Übernahme durch Lindes Erzrivalen Air Liquide ist ein Rückschlag für den Dax-Konzern. So hat der US-Konkurrent in den Vereinigten Staaten jüngst mit einer digitalen Verkaufsplattform aufhorchen lassen. Dort können Airgas-Kunden jetzt mit einem Klick bestellen, was früher weit mehr Beschaffungsaufwand bedeutet hätte: Schweißzubehör etwa für Handwerker, Industriegase für Großunternehmen oder Hospitäler. Linde hat bisher nichts Vergleichbares zu bieten.
Etwas verlegen wirkt da die Ankündigung von Linde-Chef Büchele, erst im kommenden Jahr 2016 in „mehreren europäischen Staaten“ mit der Digitalisierung des Gasflaschengeschäfts zu beginnen: Die Stahlbehälter messen dann selbständig ihren Füllstand und funken ihn zur Kontrollstation – bisweilen mithilfe einer eingebauten Sim-Karte, wie man sie ähnlich etwa im eigenen Handy findet. Überflüssige Wartungsfahrten werden so vermieden. Der flächendeckende Einsatz wird aber wohl noch etwas länger auf sich warten lassen.
Die jüngsten Analysten-Einstufungen fallen in Anbetracht des gewachsenen Gegenwindes trotz der erkennbaren Neuausrichtung von Linde entsprechend verhalten aus. Ende Oktober 2015 senkte die französische Investmentbank Exane BNP Paribas das Kursziel für Linde von 190 auf 180 Euro und beließ die Einstufung auf „neutral.“
Bei Warburg Research wurde das Kursziel für Linde angesichts der Bilanzzahlen für das dritte Quartal von 201 auf 182 Euro gesenkt, die Einstufung aber auf „buy“ belassen. Bei der NordLB hoben die Analysten das Kursziel für Linde von 158 auf 168 Euro an und blieben bei ihrer Empfehlung an die Anleger und Investoren, die Aktie zu halten.