Hauptversammlungen deutscher Aktiengesellschaften gelten bei den meisten Vorständen als ebenso lästige wie unergiebige Zeitverschwendung. Und das darf man den Managern auf der Bühne nicht einmal übel nehmen. Allzu oft konnten Besucher von Aktionärstreffen in den vergangenen Jahrzehnten erleben, wie missionarische Eiferer die Hauptversammlungen für wirre gesellschaftspolitische Auftritte und die Verkündigung ideologischer Botschaften nutzten. Erfahrene Hauptversammlungsleiter haben längst gelernt, damit umzugehen – mit einer penibel vorbereiteten HV-Dramaturgie und einem schlagkräftigen Backoffice hinter der Bühne, aus dem hochbezahlte Helfer soufflieren, was die Manager auf unbequeme Aktionärsfragen antworten sollen. Nach ein paar Stunden, das wissen die Vorstände und die Aufsichtsräte, ist die Pflichtübung Hauptversammlung überstanden, und die Organe können weiter managen und beaufsichtigen wie bisher.
Nach diesem Muster sind Vorstand und Aufsichtsrat der ThyssenKrupp AG sicherlich bestens auf ihre am 27. Januar im Bochumer Ruhr-Congress-Center stattfindende Hauptversammlung vorbereitet: Der Aufsichtsratsvorsitzende Ulrich Lehner gehört schließlich zu den erfahrensten Versammlungsleitern, die sich in der Deutschland AG finden lassen. Die Liste seiner aktuellen und früheren Mandate ist schier endlos: Aufsichtsratsvorsitzender Deutsche Telekom, Aufsichtsrat bei Porsche, Eon, HSBC Trinkaus & Burkhardt, dazu kommen etliche Ehrenämter.
Und wer dann noch die Einladung zur Thyssen-Krupp-Hauptversammlung liest könnte glatt den Eindruck gewinnen, er könne sich die Reise nach Bochum sparen: Die Tagesordnung scheint Routine (vom Dividendenbeschluss in Höhe von 15 Cent je Aktie über die beantragte Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat bis zur Bestellung eines neuen Abschlussprüfers). Der „Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre“ stellt seine üblichen Gegenanträge und will Vorstand und Aufsichtsrat die Entlastung verweigern – jede Wette, dass er auch diesmal nicht damit durchkommen wird.
Selbst in den sozialen Netzwerken des Internets sorgt ThyssenKrupp für wenig Aufregung. Für die meisten Tweets, das ergab eine aktuelle Web-Listening-Analyse von „Investors Voice“, sorgte ein Meldung, dass von DHL an Thyssen auszuliefernde Kataloge in großer Zahl in einem Mülleimer gefunden wurden. Auffällig war lediglich, dass bei etablierten Medien und Börsenportalen rund 55 Prozent der Meldungen eine positive Einschätzung zu ThyssenKrupp und seiner Aktie abgab, während auf Twitter rund 60 Prozent der User eher vorsichtig sind.
Können die „normalen“ Aktionäre, private Anleger, die vor allem an einer Wertsteigerung ihres Investments interessiert sind, sich den Besuch der Hauptversammlung also schenken? Haben sie tatsächlich nur die Wahl, über Aufsichtsrat und Vorstand nur mit einem Verkaufen oder Halten der Aktie abzustimmen? Oder lohnt es sich vielleicht doch, das Management mit Fragen zu grillen zur Strategie, zum Geschäftsmodell, vor allem zum Festhalten des Vorstands am überkommenen Konzept des Konglomerats, das von Stahl über U-Boote und Aufzügen bis hin zu Autoteilen alles mögliche herstellt und verkauft?
Wer die Hauptversammlungen von Volkswagen und Deutscher Bank im vergangenen Jahr erlebt hat, konnte dort einiges lernen: Es lohnt sich durchaus, seine Rechte als Aktionär wahrzunehmen und zur HV zu gehen! Gewiss, sowohl im Fall des Wolfsburger Autobauers als auch im Fall des Frankfurter Finanzhauses, mag es den freien Aktionären nicht gelungen sein, Aufklärung und Aufarbeitung von Misswirtschaft und Skandalen früherer Jahre in der gewünschten umfassenden Weise zu bekommen. Doch die Verwaltungen der Konzerne haben auch lernen müssen, dass sie mit der selbstgefälligen, überheblichen und in Teilen aktionärsfeindlichen Attitüde vergangener Jahre nicht mehr ohne weiteres durchkommen. Zu viele ernstzunehmende private und institutionelle Investoren lassen sich mit Würstchen, Kartoffelsalat und lapidaren Antworten auf ihre Fragen nicht mehr abspeisen. Die Aktionäre haben bei VW und Deutsche Bank eindrucksvoll demonstriert, dass sie Ihre Rechte wahrnehmen – wenn’s sein muss mit Anfechtungsklagen. Dieser Trend dürfte auch für die jetzt beginnende Hauptversammlungssaison 2017 halten. Und auch, wenn ThyssenKrupp im Vergleich zur Volkswagen AG vielen nahezu harmlos erscheinen mag, für die Aktionäre gibt es eine Menge Gründe, ein Weiter-so von Vorstandschef Heinrich Hiesinger kritisch zu hinterfragen:
Die Chancen, dem Management klar zu machen, was die Aktionäre vom Vorstand wirklich erwarten und was sie von der bisherigen Strategie halten, stehen nicht schlecht. Die Zeiten, in denen die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und ihre Abgesandten die Hauptversammlung nach Belieben steuern und lenken konnten, sind vorbei. Heute hält die Stiftung noch gut 23 Prozent der Aktien, verfügt also nicht mehr über eine Sperrminorität. Der zweite Großaktionär, die schwedische Cevian Capital, halt mehr als 15 Prozent, drängt auch auf einen mutigeren Konzernumbau, schafft es mit seinem einen Mandat im Aufsichtsrat allerdings nicht, sich gegen das Bündnis der Bremsern auf der Anteilseigner- und der Arbeitnehmerseite durchzusetzen.
Noch nicht. Ein starkes Votum der übrigen freien Aktionäre auf der Haupversammlung am 27. Januar könnte das womöglich ändern.