Japans Nikkei-Index hat erstmals in diesem Jahrtausend die 20.000 Punkte überschritten, der Dax haussiert Annfang des Jahres 2015 ebenfalls. Und auch der US-amerikanische Aktienmarkt hat eine sechs Jahre andauernde Rally hinter sich. Doch diese droht nun jäh zu enden. Denn der starke Dollar belastet die Bilanzen jener amerikanischen Firmen, die Geschäft vor allem in Übersee machen.
So erzielen die Tech-Firmen der Wall Street den Analysten der Deutschen Bank zufolge mehr als die Hälfte ihrer Verkaufserlöse jenseits der Landesgrenzen. Facebook etwa meldete im ersten Quartal einen um 46 Prozent gestiegenen Werbeumsatz – ohne den starken Dollar wäre es dem Unternehmen zufolge 55 Prozent Zuwachs gewesen.
Gegenwind kommt aber auch von anderer Seite. Die kollabierten Ölpreise bremsen vor allen Energiefirmen aus. Und trotz des billigen Öls scheint auch die US-Konjunktur zu ermüden. Die Zweigstelle der US-Zentralbank Fed in Atlanta rechnet für das erste Quartal mit einem stagnierenden Bruttoinlandsprodukt.
Nobelpreisträger Robert Shiller wies zuletzt bereits auf die historisch hohe Bewertung der US-Aktien hin. So liege das zyklisch bereinigte Kurs-Gewinn-Verhältnis der Aktien im S&P 500 im Frühjahr 2015 bei 27, während es im Schnitt seit 1881 bei 16,6 gelegen habe. Und dem Datenanbieter "Bankruptcompanynews" zufolge haben im ersten Quartal dieses Jahres 2015 mehr Publikumsgesellschaften Insolvenz angemeldet als in jedem anderen Quartal seit 2010.
Während Zeitungen wie der Guardian dazu aufrufen, die Investoren sollten „nicht in Panik verfallen“, machen sich immer mehr amerikanische Aktienkäufer insbesondere nach Europa auf. Der alte Wall Street-Schlachtruf „TINA“ – der für "There Is No Alternative" steht, und seit 2009 die lokale Rally anfeuerte, hat für viele ausgedient.
Die US-Wirtschaft wachse nicht mehr schneller als die anderer Industrieländer, warnt der TV-Sender CNBC, und stellt fest: „Europäische Aktien sind die neuen Shooting-Stars am globalen Aktienhimmel.“ Finanzexperten stimmen reihenweise ein. „Die US-Investoren folgen den Druckerpressen der Notenbanken nach Europa und Japan“, sagt zum Beispiel der CEO der Investmentberatung TrimTabs, David Santschi. Der S&P 500, so argumentiert er, habe im laufenden Jahr lediglich 1,8 Prozent zugelegt, während der deutsche Aktienleitindex Dax 22 Prozent nach oben geschossen sei. Auch die Bank of America hat jüngst ihren Klienten empfohlen, bei US-Aktien mehr Vorsicht walten zu lassen.
Doch wohin orientieren sich die Investoren aus Nordamerika? David Kotok, Vorsitzender des Vermögensverwalters Cumberland Advisors in Sarasota, Florida, sagt: „Außerhalb der USA mögen wir Deutschland, es ist ein großer, gut regulierter Markt mit hoch kapitalisierten und gut geführten Unternehmen." Als Beispiele nennt Kotok die hiesigen Börsenschwergewichte Siemens und Bayer; die Münchener kommen Ende April 2015 auf eine Marktkapitalisierung von 87,64 Milliarden Euro, der Leverkusener Bayer-Konzern auf einen Börsenwert in Höhe von 112,01 Milliarden Euro. Zum Interesse nordamerikanischer Investoren an deutschen Aktien trägt auch der schwache Euro bei, der die Exportchancen hiesiger Firmen erhöht. Das zugrunde liegende Kursrisiko sichern viele Großanleger durch Hedging-Geschäfte ab.
Vor allem aber locken die vergleichsweise hohen Dividenden, die oft deutlich über den tief gefallenen Renditen europäischer Staatsanleihen liegen. In Deutschland ist der Abstand am größten. Die Allianz zum Beispiel glänzt zum Dividendentermin Mitte des Jahres 2015 mit einer Dividendenrendite von 4,52 Prozent. Der Schnitt aller Firmen im S&P 500 liegt bei 2 Prozent. Auf der Webseite „Topforeignstocks“ wird zwar angemerkt, dass europäische Aktien schon „substanzielle Zuwächse erzielt“ hätten. Doch dort heißt es auch, dass trotz der jüngsten Kurszuwächse für Dividenden-Investoren "Europa ein lohnendes Jagdrevier ist“. Auch die durchschnittliche Dividende im Aktienindex MSCI Europe lag Ende 2014 mit 3,3 Prozent deutlich über dem Vergleichswert im S&P 500.
Aber es gibt noch zwei weitere Gründe, die US-Investoren derzeit nach Europa treiben: Führende Indices liegen in Europa inflationsbereinigt immer noch 30 bis 40 Prozent unter ihren Hochs vor der Finanzkrise, merkt der Finanzkolumnist Gavin Graham an. Und die Aktienkurse, so erklärt Graham, hätten das im März aufgelegte massive Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank noch gar nicht richtig eingepreist.
Im innereuropäischen Vergleich spricht zudem ein weiterer Aspekt für deutsche Werte: die Lage in Großbritannien. Dort hat der Einsturz der Energiepreise seit Mitte 2014 tiefere Bremsspuren als anderswo hinterlassen, weil Energiefirmen im FTSE einen relativ hohen Anteil haben. Darüber hinaus stehen Wahlen in Großbritannien an. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Konservativen und der Labour-Partei schürt Unsicherheit unter Investoren. Deutsche Firmen profitieren zudem vergleichsweise stark vom billigeren Euro, weil sie sich stärker als die europäische Konkurrenz in die Wachstumsstory der Schwellenmärkte integriert haben. All das macht deutsche Aktien für internationale Anleger beliebt, und die greifen zu.
Die Beratungsgesellschaft EY, ehemals Ernst & Young, hat im Frühjahr 2015 eine Studie vorgelegt, die den wachsenden Einfluss ausländischer Investoren in den Dax-Firmen belegt. Demnach sind nur noch 36 Prozent der Dividenden-Titel im deutschen Leitindex in deutscher Hand. Internationale Investoren halten 56 Prozent aller Anteilscheine. Das sind 2 Prozentpunkte mehr als noch vor einem Jahr. Jede fünfte Aktie eines Dax-Konzerns liegt im Depot nordamerikanischer Investoren oder Anleger.
Und dennoch, nach dem Sturmlauf mit einem Plus von 22 Prozent im ersten Quartal erwarten jetzt immer mehr Beobachter eine Verschnaufpause des deutschen Leitindex‘. So haben die Analysten der Commerzbank berechnet, dass die Differenz beim Kurs-Gewinn-Verhältnis zwischen Dax und S&P 500 inzwischen auf 1,6 Prozentpunkte geschrumpft ist. Vor sechs Monaten habe der Abstand noch mehr als 4 Prozentpunkte betragen.
Auch in Deutschland drosseln Beobachter und Investoren wegen der Abkühlung der Weltwirtschaft ihre Erwartungen an das Abschneiden der Publikumsfirmen. Nur ein Drittel der Dax-Firmen hat in dieser Berichtssaison die Gewinnerwartungen übertroffen.
Andererseits mangelt es weiterhin nicht an verfügbarem Anlagekapital. Sollte die Fed in den USA die Zinswende nach hinten verschieben – wofür es Anhaltspunkte gibt – könnte ein korrigierender Dollar und neue Rekordkurse bei US-Aktien dafür sorgen, dass europäische Wertpapiere im direkten Vergleich wieder günstiger aussehen.