Wenn Amerika das Land der Trends in der Wirtschaftswelt sein sollte, dann können sich Deutschlands Aktionäre bald auf eine neue Art der Hauptversammlung ihrer Unternehmen einstellen. Eine Aktionärszusammenkunft zusätzlich zur oder gar vollkommen ohne Präsenz beispielsweise in einer großen Festhalle. „Das neue Format ist billiger und ermöglicht die Teilnahme von mehr Aktionären", begründet HP-Sprecherin Sarah Pompei den Schritt.
Wovon sie spricht? Von virtuellen Hauptversammlungen (HV).
Einer Aktionärszusammenkunft also, die über das Internet organisiert wird und zu der sich jede Anteilseignerin und jeder Anteilseigner von daheim oder unterwegs zuschalten kann. Wenn gewünscht.
Noch in den Jahren kurz nach 2010 waren solch virtuellen Hauptversammlungen selbst im Trend-Staat USA die ganz große Ausnahme. Mittlerweile aber nimmt dort die Zahl von reinen Online-HVs rasant zu. Broadridge Financial Solutions, der führende Anbieter von Software und Systemen für Online-Veranstaltungen auf dem US-Markt, hat im Jahr 2014 insgesamt 53 reine Online-HVs organisiert, 2013 waren es 35, 2012 waren es 27. Gleichwohl: Selbst wenn die prozentualen Steigerungsraten beeindruckend sind, muss auch jetzt noch von der Anfangsphase mit wenigen, mutigen Vorpreschern gesprochen werden. Das hat Gründe.
Manchem Teilnehmer geht die komplette Virtualisierung noch zu weit. Besonders die großen Fonds, die Aktivisten und die Vermögensverwalter bevorzugen laut Broadridge sogenannte „hybride" Aktionärstreffen, also die parallele Durchführung traditioneller HVs mit gleichzeitigem und zusätzlichem Online-Zugang. „Wir ziehen hybride HVs vor", sagt zum Beispiel Philip Larrieu, ein Investment-Stratege beim California State Teachers‘ Retirement System.
Hewlett-Packard sieht das offenbar anders. Der Silicon-Valley-Gigant hat angekündigt, am 18. März 2015 als erstes Schwergewicht der New Yorker Kurstafel eine exklusive Online-Veranstaltung abzuhalten.
Hewlett-Packard indes hat bereits bekannte Vorgänger in der Organisation reiner Online-Hauptversammlungen, darunter der US-Telekom-Gigant Sprint und Martha Stewart Living Omnimedia. Sprint hielt im August 2014 seine erste Online-HV ab. TD Ameritrade lud 2014 zu einer hybriden Jahresversammlung ein. Auch bei Dax- und MDax-Firmen werden dem Vernehmen nach Pläne für hybride HVs in Angriff genommen.
„Meist geht es darum, Zeit und Geld zu sparen", versichert der Broadridge-Vizepräsident für regulatorische Angelegenheiten, Chuck Callan. Doch es gibt noch keine umfassende und klare Gesetzgebung für die digitalen Hauptversammlungen. Daher hat der Council of Institutional Investors (CII) durch seine „Best Practices Working Group" Richtlinien für die Online-Teilnahme von Aktionären ausgearbeitet.
In der Einleitung des Papiers heißt es jedoch, die Arbeitsgruppe habe sich nicht darauf einigen können, für welche Fälle exklusive Online-HVs oder hybride Treffen empfohlen werden sollten.
Den Pluspunkten einer reinen digitalen Aktionärsversammlung – mehr Effizienz, effektivere Kommunikation und ein erweiterter Teilnehmerkreis – hätten auch Bedenken gegenüber gestanden, vor allem die fehlende Chance, „dem Vorstand in die Augen zu schauen" und die in der Vergangenheit teils nicht ausgereifte Kommunikationstechnik für die Durchführung.
Immerhin 22 US-Bundesstaaten, darunter Texas, Pennsylvania und Delaware, erlauben die reine Online-Versammlung bereits. Dagegen untersagen es 18 Bundesstaaten den dort ansässigen Publikumsfirmen, zu reinen Online-Versammlungen oder Hybrid-HVs einzuladen. Dazu gehören New York, Massachusetts und New Jersey. Elf weitere Staaten schreiben einen physischen Austragungsort vor, erlauben aber zusätzliche Online-Teilnahme.
Einer der bislang kräftigsten Einwände gegen rein virtuelle Aktionärsversammlungen ist schwer von der Hand zu weisen: Aktionäre können bei den Cyber-HVs unter bestimmten Umständen nicht ganz sicher gehen, dass sie alle vorliegenden Fragen von Aktionären kennen. Und es könnte ihnen auch entgehen, wie die Auswahl unter den präsentierten Fragen gehandhabt wird. Das erklärt Amy Borrus, die stellvertretende Geschäftsführerin des CII.
Klar ist damit auch, dass exklusive Online-HVs ein beliebtes Mittel für Firmen sein werden, die ihre Vorstände vor einem „Shitstorm" der Aktionäre und Aktivisten bewahren wollen. Bisher hatten es solche Firmen eher schwer, drängenden Fragen auszuweichen, meist durch eine Verlegung der Aktionärsversammlung möglichst weit weg von der Firmenzentrale. Auch Hewlett-Packard treibt offenbar solche Gedanken um.
Kritiker wittern jedoch ein Abwehrmanöver. Die digitale HV erlaube es der Vorstandschefin Meg Whitman, die 2010 Kandidatin der Republikaner für die Gouverneurswahl in Kalifornien war, einer persönlichen Begegnung mit Anlegern und Investoren aus dem Weg zu gehen. Zu erwarten sind – so der Hintergrund – knifflige und bohrende Fragen zum geplanten Split des Unternehmens später in diesem Jahr sowie die Pläne für weiteres Wachstum.
Auf der diesjährigen Hauptversammlung dürften die Aktionäre unbequeme Fragen zu dem im Oktober 2014 angekündigten Firmensplit stellen. Meg Whitman soll das neue „Enterprise"-Unternehmen führen. Es soll sich auf Hardware und Dienstleistungen für Firmen konzentrieren. Der für PCs und Drucker zuständige Vizepräsident Dion Weisler wird Chef des zweiten Unternehmens, das auf PC-Produkten basiert. Es wird künftig HP Inc. heißen. Beide neuen Unternehmen sind mit etwas mehr als 55 Milliarden Dollar Umsatz etwa gleich groß.
Damit vollzieht Whitman nach zweieinhalb Jahren auf dem Chefsessel eine Kehrtwende. Sie hatte sofort nach Amtsantritt Pläne von Vorgänger Léo Apotheker für einen Verkauf der PC-Sparte beerdigt. Jetzt, so die offizielle Begründung, sei der Konzern besser für den radikalen Schritt aufgestellt.
Die Aktionäre werden durch eine steuerfreie Transaktion an beiden Unternehmen beteiligt. „Die Aktionäre können sich in beiden neuen Firmen engagieren, ohne befürchten zu müssen, dass sie eine Sparte mit der anderen subventionieren", erklärte im Herbst der frühere HP-Chairman und Gründer von Relational Investors, Ralph Whitworth.
Doch die Veränderungen werfen viele Fragen auf. Besonders aktive Aktionäre sind nicht glücklich. „Man braucht die persönliche Begegnung um zu sehen, wie Whitman auf den Füßen steht und wie sie so wichtige Entscheidungen verkauft", sagt der US-Aktivist John Chevedden – und spricht sich deshalb gegen die reine Online-HV von Hewlett-Packard aus.
Zwei US-Professoren haben unlängst knapp 10.000 Aktionärsversammlungen analysiert und festgestellt: Je weiter der Veranstaltungsort der Hauptversammlung vom Firmensitz entfernt liegt, desto schlechter die Nachrichten, die in der Folgezeit verkündet werden.
Wir haben hier im aktionaersforum über solche Versuche berichtet, brisante HVs durch einen fernen Austragungsort zu entschärfen – am Beispiel der Hauptversammlungen des Jahres 2014 in den USA. Dabei offenbarten sich gleich drei interessante Trends.
Erstens: Tatsächlich scheint in den USA eine wachsende Zahl von CEOs die Flucht vor erzürnten Aktionären zu ergreifen. Zweitens: Der ölreiche Bundesstaat Texas erweist sich bei den flüchtigen US-Vorständen als bevorzugter Zielort für die Ausweich-HVs. Und drittens: Es gibt auch positive Gründe für die Verlegung von Hauptversammlungen in die Ferne. Zum Beispiel, wenn Firmen im Ausland größere Beteiligungen erworben oder aus anderen Gründen rasant expandiert haben. In solchen Fällen wächst die Neigung der Topmanager, den Aktionären vor Ort einen Eindruck von der laufenden Expansion ihres Unternehmens zu vermitteln.
Auch dieser Faktor dürfte sowohl reinen als auch hybriden Online-HVs zusätzlichen Auftrieb verleihen.