Als Wendelin Wiedeking 1992 das Lenkrad des Sportwagenbauers Porsche übernahm, war Porsche zwar schuldenfrei, schrieb jedoch rote Zahlen und hatte den Absatz innerhalb weniger Jahre halbiert.
Als er 2009 den Lenker wieder aus der Hand geben musste, war Porsche zwar der renditestärkste Autokonzern der Welt, hatte die Absatzzahlen seit Antritt des Vorstandschefs mehr als vervierfacht, lief jedoch Gefahr, seine heimlich über Derivatespekulation aufgetürmten Schulden nicht mehr bedienen zu können.
Dazwischen lag ein Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte, das auch Jahre später noch die Gerichte beschäftigt.
Wiedeking war einer der Hauptdarsteller dieses Dramas, der andere Ferdinand Piëch. Piëch, der Enkel des Käfer-Konstrukteurs Ferdinand Porsche, hatte Aufsichtsrat und Anteilseigner nicht nur von der Abberufung des einstigen Porsche-Chefs Arno Bohn überzeugt, sondern 1992 auch für die Einsetzung dessen Nachfolgers gesorgt, des damals 40-jährigen Wendelin Wiedeking.
Piëch, seit 1993 Vorstandschef der Volkswagen AG, und Wiedeking, 1993 vom Sprecher zum Vorsitzenden des Porsche-Vorstands befördert, brachten Porsche und Volkswagen einerseits das Sparen bei, andererseits das Denken in gemeinsamen Produktionsplattformen. Schon im Geschäftsjahr 1994/1995 schrieb Porsche wieder schwarze Zahlen – und steigerte diese zehn Jahre lang in Folge.
Die personellen Verflechtungen beider Konzerne, der wachsende finanzielle Spielraum der Porsche AG und die eingeleitete enge Verknüpfung der Entwicklung und Produktion von Volkswagen, Audi und Porsche führten 2005 dazu, dass Porsche eine „strategische Beteiligung“ an der Volkswagen AG erwarb. Im Dezember 2005 kontrollierten die Stuttgarter rund 20 Prozent der Volkswagen-Stammaktien. Mit dem Einstieg sollte eine feindliche Übernahme verhindert werden, welche die Kooperation mit Volkswagen hätte beeinträchtigen könne, so der Konzern damals.
Porsche stockte den Volkswagen-Anteil stetig auf. Im November 2006 lag dieser bei 27,4 Prozent. Ende März 2007 erreichte er die Schwelle von 30 Prozent. Auf die dadurch ausgelöste Pflicht zu einem Übernahmeangebot an die Aktionäre reagierte Porsche mit einer Offerte, die Aktionäre eigentlich nur ablehnen konnten. Das unterbreitete Angebot lautete auf 100,92 Euro pro Stammaktie – gut 10 Prozent unter dem damaligen Kurswert.
Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung beschloss der Konzern, das Autogeschäft und das Geschäft mit Finanzbeteiligungen an VW voneinander zu trennen. Im November 2007 wurde so die „alte“ Porsche AG in Porsche Automobil Holding SE, kurz Porsche SE, umgewandelt. Die Porsche Vermögensverwaltungs AG firmierte in Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG um. Sie führte als hundertprozentige Tochtergesellschaft die Autoproduktion weiter.
Die Folgen der Derivatespekulationen der Porsche SE nahmen zuweilen bizarrere Züge an. Schon Ende Oktober 2007 bezeichnete die WirtschaftsWoche Porsche als „Hedgefonds mit Automobilgeschäft“. Im Geschäftsjahr 2007/08 kam es gar zu der kuriosen Situation, dass der Buchgewinn den Umsatz der Porsche SE überstieg.
Porsche-Chef Wiedeking fuhr auf der Überholspur – und verdiente kräftig mit. Dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel zufolge überschritt sein Gehalt aufgrund einer vertraglichen Gewinnbeteiligung im Jahr 2008 die 100-Millionen-Grenze. Insgesamt addierten sich die Bonuszahlungen an Wiedeking in den drei Jahren nach dem Einstieg bei der Volkswagen AG auf rund 188 Millionen Euro.
Auch Porsche-Finanzchef Holger Härter profitierte über Bonuszahlungen von den enormen Gewinnen der Porsche SE, die kaum aus dem Autoverkauf resultierten, sondern vorwiegend aus Buchgewinnen aufgrund der Derivatespekulationen bestanden.
Wann Porsche den Beschluss fasste, Volkswagen komplett zu übernehmen, darüber wird seit Jahren vor Gericht gestritten. Im Mittelpunkt steht dabei das Jahr 2008. Denn am 21. und 22. Februar 2008 gab es ein Treffen der Porsche-Vorstände Wendelin Wiedeking und Holger Härter mit den engsten Beratern, unter anderen Vertreter der Anwaltskanzlei Freshfields.
Allerdings gab es bereits im Jahr 2005 eine vertrauliche Zusammenkunft. Treffpunkt war die Villa Hammerschmiede im Pfinztal bei Baden-Baden, weshalb die Gespräche später auch als „Pfinztal-Runde“ bekannt wurden. Das Ziel des Treffens war offenbar seit 2005 definiert: Die Beteiligten wollten „das größte Rad der Firmengeschichte" drehen, wie die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Notizen eines Porsche-Beraters zitiert.
Kläger in verschiedenen Zivilprozessen und offenbar auch die Ankläger der Staatsanwaltschaft Stuttgart gehen davon aus, dass bereits in dieser Runde der Entschluss zu einer Aufstockung des VW-Anteils auf mehr als 75 Prozent fiel. Denn nur so hätte sich Porsche einen Zugriff auf die künftigen Gewinne der Volkswagen AG sichern können. Und diese Gewinne wurden nach Ansicht der Staatsanwaltschaft benötigt, um die durch jede Anteilsaufstockung steigenden Schulden der Porsche SE zu refinanzieren.
Auf die Pfinztal-Runde folgte am 25. Februar 2008 das „Bruckhaus-Treffen“.
Hier, so die Mutmaßungen, ging es wohl primär um eine Einflussnahme auf die mit rund 20 Prozent an Volkswagen beteiligte niedersächsische Staatsregierung und ihre Haltung zum VW-Gesetz.
Teilnehmer waren diesmal Vertreter der niedersächsischen Staatskanzlei, von Porsche und von externen Rechtsberatern der Kanzlei Freshfields, Bruckhaus, Deringer, in deren Büros am Potsdamer Platz das Treffen stattfand.
Für die Prozessbeteiligten ist die damalige Besprechung deshalb interessant, weil sie Rückschlüsse darauf zulassen könnte, ob nicht schon im Februar 2008 der Abschluss eines Gewinnabführungs- und Beherrschungsvertrags angestrebt wurde.
So hatte ein Teilnehmer an der Sitzung, der zum damaligen Zeitpunkt Mitarbeiter in der niedersächsischen Staatskanzlei war, gegenüber der "WirtschaftsWoche" verlautbaren lassen, dass er das aus dem gesamten Diskussionsverlauf und dem Drängen der Porsche-Seite auf einen Wegfall der Sperrminorität zugunsten Niedersachsens schließen konnte.
Eine Beteiligung von mehr als 75 Prozent an VW sei demnach schon damals das Ziel Porsches gewesen. Gleiches brachte derselbe Mitarbeiter auch in einem Vermerk an den damaligen Ministerpräsidenten Christian Wulff zum Ausdruck.
Der Mitarbeiter bestritt zwar später, dass er Kenntnis von den Übernahmeplänen hatte. Das Oberlandesgericht Stuttgart hielt 2014 aber das spätere Dementi für nicht glaubwürdig.
Knapp zwei Wochen nach den zwei Treffen im Februar fasste der Aufsichtsrat der Porsche SE am 3. März 2008 einen Beschluss, der es dem Vorstand erlaubte, die Beteiligung an Volkswagen auf mehr als 50 Prozent aufzustocken. In einer Ad-hoc-Mitteilung vom selben Tag verkündet Porsche, dass der Aufsichtsrat „grünes Licht für die Erhöhung der Beteiligung an der Volkswagen AG gegeben“ habe. Gleichzeitig erklärte Porsche, dass keine Fusion der beiden Unternehmen geplant sei.
Wenige Tage später berichtete jedoch das Nachrichtenmagazin Focus („Porsche geht aufs Ganze“), dass die Stuttgarter planten, „die Anteile auf 75 Prozent aufzustocken. Dann könnte man auf der Hauptversammlung einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit Volkswagen durchsetzen“.
Daraufhin veröffentlichte Porsche am 10. März 2008 eine Pressemitteilung, in der alle Medienberichte zurückgewiesen wurden, die über eine Anteilsaufstockung auf 75 Prozent spekulierten. Eine solche Spekulation „übersehe die Realitäten in der Aktionärsstruktur von VW“, so der Konzern damals.
Im Hintergrund kooperierte Porsche jedoch weiterhin mit der seit 2005 diskret im Konzernauftrag handelnden Maple Bank. Die Deutschlandtochter des kanadischen Finanzinstituts organisierte jene Aktien- und Optionsgeschäfte, mit denen sich Porsche schließlich Zugriff auf 74,1 Prozent der VW-Stammaktien sicherte.
Die wirtschaftliche Umsetzung des geheimen Beteiligungsaufbaus war − wie sich aus der Rechtsprechung des LG Stuttgart und des Bundesgerichtshofs ergibt − bereits im Sommer 2008 abgeschlossen. Die für den Markt überraschenden Anteilsverhältnisse machte Porsche in der wohl wichtigsten Pressemitteilung des gesamten Porsche/VW-Komplexes jedoch erst am 26. Oktober 2008 öffentlich.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wirft den ehemaligen Vorständen der Porsche SE daher Marktmanipulation vor. Sie stützt ihre Anklage darauf, dass Porsche einerseits seit Februar 2008 plante, die Beteiligung an der Volkswagen AG auf 75 Prozent aufzustocken, der Konzern andererseits eben diese Pläne aber zwischen dem 10. März und dem 2. Oktober 2008 in mindestens fünf öffentlichen Erklärungen dementiert habe. Die Porsche SE hingegen argumentiert, die Derivategeschäfte hätten der "reinen Kurssicherung" gedient.
Ein weiterer Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft – inzwischen Gegenstand einer Nachtragsanklage – hängt mit der Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 zusammen. Porsche wird hierin die bewusste Herbeiführung eines Short-Squeezes beschuldigt, also der absichtlichen Auslösung einer Angebotsknappheit von VW-Aktien.
Die Staatsanwaltschaft begründet ihren Verdacht mit dem starken Kursverlust der Volkswagen-Aktie in der Woche vor der lancierten Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008. Der Kurs hatte sich vom 17. bis zum 24. Oktober, also innerhalb einer Woche, von rund 400 auf 211 Euro halbiert.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hätte ein weiterer Kursverlust Zahlungsverpflichtungen in einer Größenordnung ergeben, die die liquiden Mittel der Porsche SE um ein Vielfaches überstiegen hätten. Die Porsche SE wirft der Staatsanwaltschaft allerdings vor, die Liquiditätssituation unzutreffend erfasst zu haben, „ein sinkender Kurs der Volkswagen-Stammaktie hätte bei der Beklagten auch nicht zu „Nachbesicherungszwängen" geführt“.
Im Ergebnis führte die Pressemitteilung vom 26. Oktober 2008 zu einem . Denn plötzlich deckte Porsche eine Beteiligungsposition in Höhe von 42,6 Prozent der VW-Stammaktien und Derivatposition in Höhe von 31,5 Prozent auf. Zudem verkündete die Konzernführung, dass sie beabsichtigte im Jahr 2009 ihren Anteil an VW auf 75 Prozent aufzustocken.
Addiert mit dem vom Land Niedersachsen gehaltenen Anteil von rund 20 Prozent an den VW-Stammaktien, ergab sich so ein frei verfügbarer Aktienanteil von gerade noch rund 5 Prozent. Gleichzeitig waren zu diesem Zeitpunkt mindestens 12 Prozent der Marktteilnehmer, die durch Leerverkäufe auf sinkende Kurse gesetzt hatten, gezwungen, ihre Aktienpositionen zu schließen.
Am Montag, den 27. Oktober 2008 schoss der Kurs der VW-Stammaktie phasenweise auf mehr als 600 Euro, nachdem er am Freitag zuvor seine Talfahrt erst bei einem Wert von 211 Euro gestoppt hatte.
Am 28. Oktober 2008 stieg der Kurs der Volkswagen-Stammaktie zeitweise auf 1005,01 Euro. Volkswagen war für Minuten das auf dem Papier wertvollste Unternehmen der Welt und machte rund ein Drittel der Marktkapitalisierung des Deutschen Aktienindex (Dax) aus.
Während manche Aktionäre das Geschäft ihres Lebens machten, darunter auch fünf Vorstände der Volkswagen AG, die 25 Millionen Euro mit dem Verkauf von Optionen einstrichen, gingen die Kursverluste, die Fonds und Privatanlegern durch die Kurskapriolen entstanden sind, in die Milliarden. Entsprechend hoch sind die Schadensersatzforderungen, die inzwischen von erhoben wurden.
Die Kläger werfen Porsche dabei nicht nur vor, die Übernahmeabsichten verschleiert zu haben. Sie beklagen auch, dass Porsche wichtige Informationen verschwiegen habe, die die Finanzierung der Übernahme betreffen.
Demnach hatte sich schon Ende Oktober 2008 abgezeichnet, dass angesichts der am 15. September 2008 verkündeten Insolvenz der Investmentbank Lehman Ungewissheit darüber bestand, ob die Porsche SE ihre am 24. März 2009 auslaufende Kreditlinie über zehn Milliarden Euro refinanzieren konnte. Doch nur mithilfe eines solchen zusätzlichen Kredits konnten die Stuttgarter die zusätzlichen Mittel zur Finanzierung des Erwerbs der Volkswagen-Aktie sichern.
Es lagen jedoch trotz entsprechender Anfragen der Porsche SE bei deutschen und internationalen Kreditinstituten keinerlei entsprechende Finanzierungszusagen vor. Verhandlungen über eine Verlängerung der bestehenden Kreditlinie wurden im Herbst 2008 abgebrochen.
Die Ungewissheit darüber, ob die auslaufende Kreditlinie refinanziert werden kann, erwähnte Porsche in seiner Pressemitteilung am 26. Oktober nicht. Dabei waren es letztlich wohl die Finanzierungsprobleme der Bankkredite, die Porsche zwangen, die geplante vollständige Übernahme von Volkswagen aufzugeben.
Für den langjährigen Porsche-Chef Wendelin Wiedeking war das Karriereende damit eingeläutet. Spätestens, nachdem sein einstiger Mentor und inzwischen VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch im Mai 2009 in einem Pressegespräch auf Sardinien die Frage, ob Wiedeking noch sein Vertrauen genieße, mit, „Zurzeit noch“, beantwortete. Um direkt anzufügen: „Streichen Sie das ‚noch’.“
Im selben Monat gaben Porsche und Volkswagen bekannt, gemeinsam einen „integrierten Automobilkonzern“ schaffen zu wollen. Im Dezember 2009 erwarb Volkswagen von der Porsche SE eine 49,9-Prozent-Beteiligung an der Porsche AG. Zum 1. August 2012 übernahm die Volkswagen AG die Porsche AG komplett.
Die Übernahme Volkswagens ist Porsche gleichwohl gelungen, denn die Porsche SE hält mittlerweile mindestens 52,2 Prozent an der Volkswagen AG.