Es ist der 30. Juli 2015, 9.14 Uhr: Siemens-Aktien kosten 92,31 Euro. Bis 9.29 Uhr, nur 15 Minuten später, schnellt ihr Preis auf 95,81 Euro. In der Viertelstunde dazwischen sprach Siemens-Chef Joe Kaeser über das Geschäft des Konzerns im dritten Quartal 2015 – ein Auftritt mit Kursfolgen: Kaeser hatte offenbar viele Siemens-Beobachter auf dem falschen Fuß erwischt.
Der Münchener Industrieriese hat im dritten Quartal 2015 mehr verdient als zuvor, und das war so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was spekuliert worden war. Zuvor hatten doch schließlich viele große Siemens-Konkurrenten von schlechteren Geschäften berichtet. Warum sollte es bei Siemens anders sein? Stehe da vielleicht sogar eine Siemens-Gewinnwarnung zu befürchten?
Dann sprach Joe Kaeser.
Der Siemens-Umsatz war zwischen April und Juni 2015 verglichen mit dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um 8 Prozent auf 18,8 Milliarden Euro im Plus, der Auftragseingang um 4 Prozent auf 19,9 Milliarden Euro gestiegen. Einzig der Quartalsgewinn sank infolge von Restrukturierungen um 2 Prozent auf 1,4 Milliarden Euro.
Alles perfekt, also? Wer genauer hinhörte, bemerkte schnell: Siemens hat vor allem Fahrt aufgrund des schwächelnden Euro-Kurses aufgenommen.
Ohne den Euro-Schub und Portfolioeffekte hätte Siemens-Chef Kaeser am 30. Juli 2015 über einen Rückgang des Auftragseingangs um 5 Prozent sprechen müssen. Auch darüber, dass der Umsatz um 3 Prozent niedriger als vor Jahresfrist ausgefallen wäre.
Damit steht Siemens beispielhaft für den enormen Schub, den viele deutsche Konzerne in der ersten Jahreshälfte 2015 durch den angeschlagenen Euro erhalten haben. Der verlor zwischen Januar und Juli 2015 beispielsweise zum Dollar dicke 10,5 Prozent an Wert.
Auch verglichen mit anderen wichtigen Devisen knickte Europas Gemeinschaftswährung ein, etwa gegenüber Chinas Yuan, dem britischen Pfund und selbst Japans Yen. Und weil viele hiesige Konzerne wie der gesamte weltweit verflochten sind, wurde die Euro-Talfahrt zum Umsatz-Turbo für so manchen Dax-Konzern.
„Die exportorientierten Unternehmen in Deutschland profitieren massiv vom niedrigen Euro-Kurs, der ihre Produkte im Ausland billiger macht oder zu positiven Wechselkurseffekten bei der Umrechnung in Euro führt“, sagte Thomas Harms, Partner bei der Unternehmensberatung EY.
Eine Zwischenbilanz der Unternehmensberater zeigt den Effekt. Im zweiten Quartal 2015 kletterte der Gewinn jener 14 Dax-Konzerne, die bis Ende Juli 2015 in ihre Rechnung einbezogen wurden, nicht zuletzt aufgrund der Euro-Schwäche um 11 Prozent auf insgesamt 17,5 Milliarden Euro. Auch der Umsatz stieg, und zwar um 12 Prozent auf 174,4 Milliarden Euro.
„Auf den ersten Blick sind die bisher vorgelegten Zahlen überaus positiv, die Umsatz- und Gewinnentwicklung zeigt eindeutig nach oben“, zitierte die Tiroler Tageszeitung den EY-Partner Thomas Harms.
Die Unternehmensberater hatten zuvor bereits errechnet, dass die Dax-Firmen von Januar bis März 2015 fast 60 Prozent ihrer Erlöszuwächse der schwächelnden Gemeinschaftswährung verdankt haben. So habe der sieche Euro das gesamte erste Quartal 2015 zu einem historisch guten der Dax-Riesen gemacht.
Der Umsatz der 30 Dax-Firmen beispielsweise sei in dieser Zeit um 9 Prozent auf zusammen 336 Milliarden Euro gestiegen – das ist ein Rekordwert. Hier ein Auszug der Euro-Gewinnerliste:
Auch bei SAP wirkte der schwache Euro im zweiten Quartal 2015 wie ein Nachbrenner für die Verkaufserlöse. Fast die Hälfte des bereinigten Umsatzanstiegs ging auf den Wechselkurs zurück. Finanzchef Luka Mucic zufolge stiegen die Umsätze so von April bis Juni auf Jahresbasis um 20 Prozent auf 4,97 Milliarden Euro. Ohne Währungseffekt hätte der Zuwachs bei 8 Prozent gelegen.
Der Gase-Dienstleister Linde meldete Ende Juli 2015 einen Umsatzzuwachs um 10 Prozent auf 9,03 Milliarden Euro. Bereinigt um Währungseffekte lag der Umsatz allerdings auf Vorjahresniveau bei gut 8,2 Milliarden Euro. „Die Prognose für die Gases Division haben wir im Wesentlichen aufgrund von Währungskurseffekten nach oben korrigiert“, so Linde-Chef Wolfgang Büchele.
Wie sich der Euro-Kurs entwickelt, dürfte in der zweiten Jahreshälfte maßgeblich jenseits des Atlantiks beeinflusst werden. Dann etwa, wenn die US-Notenbank die immer wieder angedeutete Zinswende in Amerika angeht – und so internationale Geldanlageströme in den dann höher rentierlichen Dollar-Raum lockt, was den derzeit niedrigen Euro-Kurs zum Dollar tendenziell zementieren würde.
Noch ist es zwar nicht soweit. Die US-Notenbank hat ihren Leitzins Ende Juli 2015 weiter zwischen null und 0,25 Prozent gehalten, dennoch steuert sie wohl die erste Zinserhöhung seit fast zehn Jahren an. Schließlich sollen die US-Zinsen nach Angaben der Notenbankchefin Janet Yellen steigen, sofern sich die Lage auf dem US-Arbeitsmarkt bessert.
Der bollert aber bereits jetzt wie kaum ein anderer in der Welt. Selbst die US-Notenbank-Chefin spricht schon von „solidem Stellenzuwachs und abnehmender Arbeitslosigkeit“ in den USA.
Auch Dokumente, die die Fed Ende Juli wohl versehentlich auf ihre Webseite gestellt hat, lassen vermuten, dass im zweiten Halbjahr 2015 Ernst gemacht wird mit der vorgesehenen Zinsanhebung. Käme es so, bliebe der Euro unter Druck.
Ein Glücksfall für viele exportorientierten Börsenkonzerne Deutschlands. Denn wie kräftig ein erstarkender Euro-Kurs das Geschäft bremst, haben die hiesigen Firmen noch gut in Erinnerung. Erst vor zwei Jahren, also im Jahr 2013, wertete Europas Valuta parallel gegenüber den wichtigsten Währungen der Welt auf.
Ob gegenüber Schwellenland-Devisen wie dem brasilianischen Real, der türkischen Lira oder der indonesischen Rupie, oder den Weltleitwährungen – der Euro-Kurs legte seinerzeit zu, und das nicht zu knapp: gegenüber dem Dollar um 3 Prozent, dem britische Pfund um 5 Prozent, dem japanischen Yen sogar um 26 Prozent. Und das schmerzte.
Im Jahr 2013 sanken die Umsätze der 30 größten deutschen börsennotierten Unternehmen erstmals seit vier Jahren wieder, also seit der Finanzkrise 2008/2009; das Minus betrug in der Jahresabrechnung 2013 zwar nur 0,1 Prozent auf damals 1,23 Billionen Euro, hatte die Unternehmensberatung EY errechnet.
Die Euro-Stärke drückte aber die Gewinne der Dax-Konzerne damals deutlich stärker um minus 2 Prozent auf seinerzeit 104 Milliarden Euro. „Betroffen waren vor allem Unternehmen mit einer starken Präsenz in den außereuropäischen Wachstumsmärkten“, sagte EY-Experte Thomas Harms damals dem Handelsblatt.
Zu sehr wollen sich die hiesigen Dax-Lenker im Jahr 2015 dann auch nicht auf die Euro-Schwäche verlassen, zumal die nicht immer hilft.
Bayer-Chef Marijn Dekkers etwa sagt, „ein schwacher Euro hilft nur kurzfristig etwas. Mittel- und langfristig ist ein schwacher Euro schlecht für das Geschäft, weil Rohstoffe, Öl und andere Waren teurer werden, die wir für die Produktion dringend brauchen.“
Auch Versicherer wie die Münchener Rück können sich ebenfalls nicht uneingeschränkt über den schwächeren Euro freuen. Denn die Prämieneinnahmen jenseits der Euro-Grenzen steigen zwar wechselkursbedingt, doch die versicherten Schäden werden dort auch teurer.
Und wer Ärger mit Behörden in bedeutenden Währungsgebieten außerhalb der Euro-Zone hat, wird auch nicht frohlocken: Zu zahlende Strafen sind plötzlich in Euro gerechnet viel höher als zuvor gedacht und drücken nun umso stärker auf die Bilanz.
Der Stahlkonzern ThyssenKrupp etwa machte Währungseffekte dafür verantwortlich, dass sich seine Schulden von Ende Dezember 2014 bis Ende März 2015 um rund 400 Millionen auf 4,6 Milliarden Euro erhöhten; der Ruhrgebiets-Konzern finanziert seine Auslandsgeschäfte oft in der jeweiligen Währung.
Geht es jedoch nach verschiedenen Investmentbanken, dann dürfte sich die Euro-Schwäche allerdings fortsetzen und damit die positiven Bilanzeffekte für die hiesigen Publikumsfirmen noch einige Monate über den laufenden Augst 2015 hinaus fortschreiben. Davon sind beispielsweise die Experten der US-Investmentbank Goldman Sachs überzeugt.
Die hatten zu Beginn dieses Jahres noch vorhergesagt, der Euro-Kurs werde bis zum Jahr 2017 auf die Parität zum Dollar sinken.
Passé.
Die Prognose musste wegen der Euro-Schwäche angepasst werden. In der aktuellen Prognose rechnet Goldman Sachs bis Juni 2016 mit einem Euro-Kurs von nur noch 0,95 Dollar.