Gemessen am Börsenkurs dürfte manch Aktionär zweifeln, ob die ruhmreiche Vergangenheit der Siemens AG sich auch in die Zukunft fortsetzt. In der Ära Peter Löscher (Vorstandschef von 2007 bis 2013) und Gerhard Cromme (Aufsichtsratschef seit 2007) war das Management offenbar so sehr mit der Aufarbeitung der Korruptionsaffäre beschäftigt, dass das Geschäft vernachlässigt wurde.
Doch wer glaubte, unter Löschers Nachfolger Joe Kaeser komme wieder Schwung in den Konzern, wird auf eine Geduldprobe gestellt.
Zwar attestieren vor allem CSU-Politiker Siemens gerne und medial wirksam Vorbildcharakter. VW könne sich bei der Aufarbeitung seiner Dieselgate-Affäre an den Münchenern orientieren, meint der einstige Finanzminister Theo Waigel. Sein Parteifreund, der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer besichtigte indes und lobte das durchdigitalisierte Amberger Elektronikwerk des Konzerns als „wunderbare Geschichte“. Doch die Aktionäre spüren davon wenig.
Die Aktie dümpelt knapp über 80 Euro, weit von ihrem Höchstkurs entfernt – ungefähr auf dem Niveau von vor zehn Jahren. Wichtiger aber noch: Das operative Geschäft hat Kaeser längst nicht so erfolgreich angeschoben, wie viele Investoren das bei seiner Amtsübernahme erhofft hatten.
Die prominentesten Baustellen sind der Ölpreis und China. So dürfte die Übernahme des US-Fracking-Spezialisten Drasser-Rand sich in die Reihe der teureren Fehleinschätzungen eingliedern, die Siemens in den vergangenen Jahren unterlaufen sind, darunter der Einstieg in die Solarindustrie und der verkorkste Bau von Umspannwerken für die Offshore-Windkraft.
Und auch in China droht ein konjunktureller Rückschlag. Zwar hat Siemens-Technologiechef Siegfried Russwurm beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos die Siemens-Fabrik im südchinesischen Shenzen jüngst als „Ikone der Fabrik der Zukunft“ bezeichnet.
Langjährige und ehemalige Führungskräfte des Konzerns sehen das aber durchaus anders. Sie kritisieren, dass Siemens technologisch Potential verschenke. So wird hinter den Kulissen immer wieder die Frage gestellt, warum Kaeser statt des technischen Ingenieurswesens stärker das „Financial Engineering“ vorantreibt, etwa mit der Ausgliederung der Gesundheitssparte.
Warum der Konzern diese Politik fortführen will, werden die rund 7000 Aktionäre bei der Hauptversammlung 2016 am 26. Januar in der Münchener Olympiahalle erleben. Wenn Siemens-Oberaufseher Gerhard Cromme durch den Tag führt, dann wird er wohl sein Verständnis von Kontinuität zum vorherrschenden Prinzip der Konzernführung erheben – sowohl strategisch wie auch personell.
Um mit denselben Köpfen unangefochten weiter regieren zu können, trickst Cromme sogar die zum Teil von ihm selbst aufgestellten Regeln guter Corporate Governance und den Geist der Geschäftsordnung des Siemens-Kontrollorgans aus.
So sollen die Aktionäre drei Aufsichtsratsmandate vorzeitig verlängern, darunter das von Jim Hagemann Snabe, ehemaliger SAP-Co-Chef, und Nicola Leibinger-Kammüller, Chefin des Maschinenbauers Trumpf. Nicht zuletzt das Mandat des Cromme-Intimus und Multiaufsichtsrat Werner Wenning (69). Die Folge dieses Manövers: Wenning, der bereits mit seinen Kontrolleursaufgaben bei Bayer und vor allem Eon gut zu tun haben sollte, vermeidet, bei Auslaufen seines bisherigen Mandats 2018 abdanken zu müssen. Denn er wäre dann deutlich jenseits der 70 und würde die reguläre Altersgrenze bei Siemens reißen.
Cromme indes muss sich fragen lassen, warum erst eine Altersgrenze für Siemens-Aufseher eingeführt wird, um sie dann trickreich zu umgehen?
Über eine mögliche Antwort auf diese Frage spekulierte zuletzt bereits „Die Welt“. Sie schrieb, dass Siemens zwar offiziell verlautbare, die Verlängerung der drei Aufsichtsratsmandate im Kontrollgremium dienten der Kontinuität für eine „nachhaltige und erfolgreiche Umsetzung“ der „Vision 2020“. Investoren gingen stattdessen aber von einem anderen Grund aus. Denn im Juli 2018 ende die Amtszeit von Vorstandschef Joe Kaeser.
Zwei Jahre später könne er – nach einer im Corporate Governance Kodex vorgeschriebenen Abkühlungsphase – Siemens-Aufsichtsratschef werden. Der 69-jährige Wenning könne zwischenzeitlich die Cromme-Nachfolge antreten und dann nach zwei Jahren Platz für Kaeser machen, heißt es.
Andere gehen davon aus, dass Werner Wenning 2018 schlicht zu alt wäre, um Oberaufseher Gerhard Cromme (72) spätestens 2018 an dessen Mandatsende abzulösen. Siemens-Aufsichtsratsnovize Norbert Reithofer wäre hingegen als Ingenieur für den Technologiekonzern wohl geeignet. Doch die Familie Quandt/Klatten, Hauptaktionärin von Reithofers Hauptarbeitgeber BMW, will ihn dafür nicht freigeben.
Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) plant nun bereits eine Ablehnung der bei der Hauptversammlung unter Top 6 gelisteten „Beschlussfassung über die vorzeitige Wiederwahl von Mitgliedern des Aufsichtsrats“.
Die SdK hält die Argumentation von Siemens für „nicht nachvollziehbar“. Vor dem Hintergrund der Vision 2020 sei es gerade sinnvoll, mit der Wahl zu warten. So sei im Wahljahr 2018 mehr als die Hälfte der „Laufzeit“ des Strategieprogramms verstrichen, so dass die Hauptversammlung besser als jetzt in der Lage sein dürfte, zu entscheiden, ob die bisherige Unterstützung durch den Aufsichtsrat fruchtbar war und fortgesetzt werden solle oder ob eine personelle Neubesetzung von Nöten sei.
Auch der Verein der Belegschaftsaktionäre in der Siemens AG kann mit den Plänen der Konzernführung nichts anfangen. In einem „Antrag auf Nichtbefassung“ geben die Siemensianer ihre Auffassung wieder, dass „die gemeinsame Verantwortung aller Aufsichtsratsmitglieder für die Vision 2020 durch das Herausheben von drei Personen infrage gestellt wird.“
Darüber hinaus spricht auch einiges für eine Runderneuerung des Kontrollgremiums, um es strenger an den Erfordernissen von Siemens auszurichten: So müsste sich Jim Hagemann Snabe, ehemaliger SAP-Co-Chef und amtierende Aufseher des Walldorfer Softwarekonzerns, bei einigen Themen im Siemens-Kontrollgremium eigentlich die Ohren zuhalten. Denn in der Zukunftsdisziplin Industrie 4.0 werden die Münchener und die Walldorfer zumindest partiell mehr und mehr zu Wettbewerbern.
Jüngstes Beispiel: Siemens plant offenbar die Übernahme der US-Softwarefirma CD-adapco. Das rund 900 Mitarbeiter zählende Unternehmen vertreibt so genannte CAD- und CAE-Software, mit deren Hilfe unter anderem Automobilchassis am Rechner entworfen und Strömungsmessungen vorgenommen werden können. Von Reuters zitierten Insidern zufolge zahlt Siemens knapp eine Milliarde Dollar (rund 925 Millionen Euro) für die in Melville im Bundesstaat New York ansässige Firma, die derzeit rund 200 Millionen Dollar im Jahr umsetzt.
Der ein oder andere Siemens-Aktionär dürfte sich vor diesem Hintergrund auch an das Beispiel Deutsche Bank erinnern. Dort zwangen erst die Aktionäre dem Aufsichtsrat eine personelle Erneuerung auf. Ob es bei Siemens schon soweit ist, wird die Hauptversammlung am 26. Januar zeigen.