Deutsche Publikumsfirmen kaufen im Herbst 2014 in den USA Unternehmen auf, als stünden sie an einem Wühltisch im Sommerschlussverkauf. Experten erklären dies mit den vollen Firmenkassen und den in Deutschland vergleichsweise geringen Investitionen.
Studien stützen diese These: Die Berater von Deloitte berichten nach der Befragung von 271 Großunternehmen in vierzehn EMEA-Ländern in ihrer Studie „Cash to Growth", dass börsennotierte europäische Unternehmen fast eine Billion Euro Barreserven gebildet haben. Ein Drittel der deutschen Unternehmen will demnach allein bis Ende 2015 Wachstum zukaufen. Und die fehlenden Investitionen sind ebenfalls hinlänglich bekannt.
Als das Statistische Bundesamt Anfang September 2014 mitteilte, dass im zweiten Quartal das Bruttoinlandsprodukt um 0,2 Prozent geschrumpft war, entlarvte es rückläufige Ausgaben für Maschinen und Anlagen sowie stark gedrosselte Bauinvestitionen als einen wichtigen Grund. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hat sie „als die große Schwäche Deutschlands" bezeichnet.
Daneben gibt es weitere Gründe für den deutschen Firmeneinkaufsbummel in den Vereinigten Staaten. So haben viele deutsche Konzerne im vergangenen Jahrzehnt massiv in die großen Schwellenländern investiert, ihr Engagement in den USA weist hingegen Nachholbedarf auf.
Für deutsche Firmen, die internationale nicht ins Hintertreffen geraten wollen, erklärt auch der M&A-Experte Christian Kames bei der Citigroup, gehe es weniger um den Gewinn von Marktanteilen im stagnierenden Europa, sondern vielmehr um Wachstumsmärkte. Und dabei stünden trotz verschiedener konjunktureller Enttäuschungen „vor allem die USA wieder auf der Agenda", wie Kames vor wenigen Tagen dem "manager magazin" verriet.
Analysten sehen auch die Furcht deutscher Firmen vor einem Schwächeanfall des Euro als möglichen Treiber im US-Sommerschlussverkauf. David Kostin, Währungsexperte bei Goldman Sachs, geht davon aus, dass der Wechselkurs des Euros bis Ende 2017 gegenüber dem US-Dollar von jetzt 1,29 auf Parität zurückfallen wird. Sollte dies auch nur annähernd eintreffen, würden sich große M&A-Deals in den USA für Firmen aus dem Euro-Raum stark verteuern.
Doch es geht um mehr. Viel mehr. In zahlreichen Branchen, darunter die Informationstechnologie und der Automobilbau, brechen neue Zeitalter an. Und die USA sind oft genug der strategische Kernmarkt für viele Branchen. Große Firmen wollen außerdem durch Zukäufe gerüstet sein – vor allem für die Mitnahme von Megatrends wie dem Fracking-Boom.
Deshalb hat Siemens in den USA für 7,6 Milliarden Dollar die Übernahme des Kompressoren- und Turbinenherstellers Dresser-Rand angekündigt. Der Deal wurde erst am Sonntag bekannt, also am 21. September 2014. Dresser-Rand ist ein wichtiger Ausrüster der Öl- und Gasindustrie.
Deren Fracking-Boom verwandelt die USA im laufenden Jahr in den größten Ölproduzenten auf dem Planeten. Der Internationalen Energie Agentur zufolge soll die US-Förderung bis 2019 um weitere 19 Prozent ansteigen und erst damit ihr Plateau erreichen.
Die Übernahme von Dresser-Rand durch Europas größten Engineering-Konzern hat sich seit drei Jahren angebahnt. Siemens will in diesem Segment der Energiebranche einen Zahn zulegen, weil es laut Vorstandschef Joe Kaeser aus dem Fracking-Boom noch nicht alles herausgeholt hat.
Kaeser hatte vor ein paar Wochen in einem Interview zu Protokoll gegeben, dass der Konzern noch „Munition" für Übernahmen habe, nachdem Siemens gegen General Electric beim Bieterkampf um das Gasturbinengeschäft von Alstom unterlegen war.
Eine wichtige Sparte stärker will auch SAP mit der 8,3 Milliarden Dollar teuren Übernahme von Concur Technologies bei Seattle. Concur entwickelt Software für das Hotelgewerbe und den Tourismus und soll das Cloud-Geschäft von SAP antreiben, bei dem Programme nicht mehr bei den Kunden installiert, sondern direkt über das Internet genutzt werden. SAP-CEO Bill McDermott bezeichnet die Übernahme als die größte „in der Geschichte der Cloud-Industrie."
In einem ganz neuen Markt von Anfang an dabei zu sein, ist auch das Ziel der inklusive Schulden auf 13,5 Milliarden Dollar veranschlagten Übernahme des US-Lieferanten TRW Automotive durch ZF Friedrichshafen. Es ist einer der größten M&A-Deals in der globalen Zulieferbranche und katapultiert die ZF auf einen Schlag an die weltweit zweite Position hinter Bosch.
Das Ziel ist nichts anderes als die erste Startreihe im Wettlauf um die selbst fahrenden Autos der Zukunft. ZF-CEO Stefan Sommer kann es in dem Rennen um diesen völlig neuen Pkw-Markt – den der Branchen-Berater IHS Automotive in Detroit bis 2030 auf jährlich 21 Millionen Fahrzeuge schätzt – jetzt mit Bosch, Continental und Denso aufnehmen.
Lieferanten in dieser Größenordnung, die sich als führender Spieler in einer Nische wie der Kollisionsvermeidung in dem Zukunftsmarkt aufstellen, können außerdem darauf hoffen, von den großen PKW-Herstellern in Preisverhandlungen weniger herumgeschubst zu werden.
Der größte Übernahmedeal eines deutschen Unternehmens in den USA wurde erst zu Wochenbeginn bekannt. Es ist die 17-Milliarden-Dollar-Akquisition von Sigma-Aldrich in St. Louis durch die Merck KGaA. Sigma-Aldrich ist einer der größten Hersteller chemischer und biologischer Testgeräte für wissenschaftliche Labore. Merck kann mit diesem Deal seine Abhängigkeit vom Pharmasegment reduzieren.
„Wir sichern uns stabiles Wachstum und Profitabilität in unserem Life-Science-Geschäft und profitieren von Trends wie zunehmender Globalisierung der Forschung und der pharmazeutischen Produktion", erklärt Merck-CEO Karl-Ludwig Kley den Kauf.
Allein die vier genannten Deals von Siemens, SAP, ZF und Merck haben einen Gesamtumfang von fast 50 Milliarden Dollar. Analysten und Anleger haben die Nachrichten darüber in den vergangenen Tagen teils kritisch kommentiert.
Den Siemens-Deal sieht der Analyst Volker Stoll bei der Landesbank Baden-Württemberg zwar als „strategisch sinnvoll" an, bezeichnet den Preis für Dresser-Rand aber auch als „reichlich". Dem Münchener Konzern wird von JP Morgan-Analyst Andreas Willi zudem bescheinigt, spät in den Fracking-Boom in den USA einzusteigen.
Commerzbank-Analyst Thomas Becker hält derweil auch den Preis für Concur Technologies für hoch, gemessen daran, dass nach seiner Ansicht das von Concur mitgebrachte Reise- und Entertainment-Segment „nicht das Kerngeschäft von SAP verstärkt."
SAP brauche einige Zeit, um Synergien zu erzielen und habe jetzt weniger Spielraum für weitere Deals. Dagegen halten die SAP-Analysten der Citigroup SAP bei vorangegangenen Deals vergleichbarer Art für erfolgreich und erwarten auch diesmal ein gutes Ergebnis.