Im deutschen Aktionärskalender 2019 gibt es sicherlich unangenehmere Termine als den 30. Januar. An diesem Mittwoch treffen sich die Anteilseigner der Siemens AG in der Münchener Olympiahalle zu ihrer Hauptversammlung. Vorstandschef Joe Kaeser erwartet für seine Darbietungen aus dem vergangenen Geschäftsjahr wohl einigen Applaus: Den Nettogewinn hat der Konzern von 4,4 auf 6,1 Milliarden Euro gesteigert, die Ausschüttung an die Aktionäre wird ordentlich aufgestockt, von drei Euro auf 3,80 Euro. Da ist es doch leichter zu verkraften, dass der Aktienkurs von gut 120 Euro Ende Juli vergangenen Jahres auf rund 100 Euro abgeschmiert ist.
Zumal bei Aktienkursen ohnehin das „Prinzip der relativen Sch… gilt“, wie ein Münchener Banker mal zutreffend formuliert hat. Hätten die Aktionäre nämlich nicht Siemens im Depot, sondern General Electric, einst von Beratern, Bankern und Medien als leuchtendes Vorbild gepriesen – sie hätten ein Horrorjahr erlebt. Seit Ende 2016 ist die GE-Aktie von gut 31 Dollar auf aktuell etwa neun Dollar abgestürzt. Der einstige Shareholder-Value Musterschüler musste zwischenzeitlich einen Quartalsverlust von unglaublichen 23 Milliarden Dollar ausweisen, die Dividende wurde auf einen US-Cent zusammengestrichen, so gut wie nichts.
Keine Frage, rund fünfeinhalb Jahre nach seiner Machtübernahme bei Siemens kann Kaeser vor Kraft kaum laufen. Gewiss, hier und da klappt auch mal etwas nicht. Die Sparte „Bau von konventionellen Kraftwerken/Turbinen“ ist in die roten Zahlen gerutscht. Und die Verkehrssparte, die Käser mit dem französischen Wettbewerber Alstom verheiraten wollte, muss auf absehbare Zeit wohl alleine weiterfahren, weil die Wettbewerbsbehörden ihren Segen nicht geben wollen. Aber was ist das schon gegen den tiefen Fall von GE.
Alles bestens bei Siemens also? Soll Käser so weitermachen? Nicht ganz. Die Aktionäre dürfen nicht vergessen, dass es für den amtierenden Siemens-Primus nicht besonders schwer war, nach seinem unglücklich operierenden und völlig überforderten Vorgänger Peter Löscher zu glänzen. Und als gelerntem Finanzmann ist es Kaeser leicht gefallen, den Ingenieurs-Konzern so umzubauen, dass (bereits vorhandene!) Werte gehoben wurden.
Es deutet einiges darauf hin, dass Kaeser nach diesem Rezept weitermachen will. Als letztes großes Element seiner „Vision 2020+“ verschreibt er dem Konzern eine neue Struktur, die vom ersten April dieses Jahres an gelten soll: Eine Säule bestehend aus den drei operativen Geschäftseinheiten „Digitale Fabrik“, intelligente Infrastruktur“ und „Energie“, die jeweils relativ unabhängig am Markt agieren sollen. Daneben eine zweite Säule mit drei sogenannten strategischen Einheiten Verkehr (Bahntechnik), Windräder (Gamesa) und Medizintechnik (Healthineers), Zwei der drei Einheiten aus der zweiten Säule sind bereits an der Börse notiert.
Wie aber soll das Ende-Modell aussehen? Will Kaeser am Ende Siemens irgendwann mal womöglich zerschlagen? Oder soll der integrierte Technologiekonzern demnächst eine Holding werden, mit immer mehr börsennotierten Beteiligungen? „Ich garantiere: Was wir machen, ist besser, als die meisten Leute heute denken“ ließ Kaeser sich im Sommer vergangenen Jahres zu seinem Endgame-Plan entlocken.
Bei der Hauptversammlung wird er konkreter werden müssen. Die Aktionäre wollen wissen, wohin die Reise geht. Bisher wissen sie nur: Der Konzernchef will sich alle Optionalitäten offen halten, Financial Engineering statt technische Ingenieurskunst. Für die Aktionäre wirkt das wie eine Black-Box. Dann können sie auch gleich in einen Technologie-Fonds investieren. Die Aktionäre wollen endlich wissen, wie Siemens in ein paar Jahren Werte schaffen will. Und da hat Kaeser noch nicht soviel geboten.
Ausgerechnet der „Verein der Belegschaftsaktionäre in der Siemens AG, e.V.“ hat für die Hauptversammlung den Antrag gestellt, Kaeser die Entlastung zu verweigern. In der Begründung des Antrags sorgen sie sich um die „Basis der Innovationskraft des Unternehmens“. Sie können dabei auch noch auf einen prominenten Kronzeugen verweisen:
„Die Industrie eines Landes wird niemals eine international leitende Stellung erwerben und sich erhalten können, wenn das Land nicht gleichzeitig an der Spitze der naturwissenschaftlichen Forschung steht.“ Was Werner von Siemens, Gründer der Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske, Vorläufer der heutigen Siemens AG, einst sagte, gilt genauso für einen Großkonzern.