300 Meter nach unten. Zitternde Blicke, tastende Schritte. Es werden 385 Meter bis zur anderen Seite der Brücke, die einem schmalen, durchsichtigen Band gleicht: Der spektakuläre Steg soll mit einem Glasboden gebaut werden. Freier Blick nach unten also für Mutige, in eine Hunderte Meter tiefe Schlucht in Wulingyuan, China.
Freier Blick zumindest, wenn die Brücke im Gebiet dieses Weltnaturerbes denn ab Juli 2015 gebaut wird. Jetzt, kurz vor geplantem Baubeginn, kommen Zweifel auf. Kein Wunder.
Es läuft nicht mehr so rund in Chinas Wirtschaft. Im Gegenteil, eine Delle ist zu spüren. So merklich, dass sie sich im Zahlenwerk der Statistiker leicht ablesen lässt: Der Einkaufsmanagerindex der chinesischen Wirtschaft beispielsweise sendet gar minimale Schrumpfsignale aus Fernost; dieses Konjunkturbarometer wird von der Großbank HSBC und dem Markit-Institut erhoben. Es sank im Juni 2015 den dritten Monat in Folge.
Mehr noch. Im Mai 2015 knickten Chinas Importe um 17,6 Prozent ein, die Exporte um 2,5 Prozent – ein untrügliches Signal für eine schwächelnde Binnenkonjunktur. Chinas Notenbank hat deshalb am 29. Juni 2015 die Zinsen gesenkt, zum vierten Mal seit November 2014. Denn die ersten Zinssenkungen aus dieser Serie hatten nicht die gewünschte, schnelle Wirkung:
Auf Quartalssicht gerechnet soll die Riesenökonomie in Fernost zum Jahresstart 2015 mit 7 Prozent so langsam gewachsen sein, wie seit der Finanzkrise nicht mehr, hat Chinas Statistikbehörde angegeben.
„Die chinesische Wirtschaft wird wahrscheinlich sogar stärker an Fahrt verlieren, als es die offiziellen Statistiken andeuten“, warnt Andrew Swan, Asien-Aktienchef des milliardenschweren Finanzinvestors Black Rock im österreichischen Magazin Format.
Kein Wunder dann die Enttäuschung, die sich in zahlreichen Industrie-Arbeitskreisen der europäischen Handelskammer in Peking breit macht. „Das Wirtschaftswachstum in China geht runter, aber die Kosten gehen hoch“, sagte Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in China, Mitte Juni 2015 der Deutschen Welle. „Die Unternehmen fahren ihre Investitionen zurück und planen Kürzungen.“
Nicht so offenbar BASF und Bayer, die zu den führenden ausländischen Investoren in China zählen. Dabei sind eigentlich auch diese Dax-Schwergewichte unter Druck in Fernost.
In der Chemie-Branche in China beispielsweise werden Umweltsünder mittlerweile rabiat zur Kasse gebeten, wenn nach einem Unfall aufgeräumt werden muss. Das kann natürlich auch BASF oder Bayer treffen, wenn einmal etwas gründlich schief laufen sollte in der Produktion vor Ort.
Hinzu kommt: Chinas heimische Anbieter lernen dazu und beginnen in höherwertige Produkte wie Kunststoffe vorzudringen. Sie bedrängen die Giganten aus dem Westen damit erstmals im profitableren Spezialitätengeschäft. Weitere Investitionen der westlichen Konzerne führen somit nicht mehr automatisch zum Erfolg.
Die beiden Dax-Champions lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen, vielleicht haben sie auch guten Grund dazu. Denn die Nachfrage nach höherwertigen Produkten wächst in China auch 2015, und das kommt den beiden deutschen Herstellern entgegen. Zudem haben sie sich auf offenbar attraktive Bereiche der chinesischen Wirtschaft konzentriert, die Wachstum versprechen, auch wenn die Fernost-Ökonomie insgesamt nicht mehr so bollert, wie noch vor ein paar Jahren.
Gesundheits- und Chemiefirmen wie BASF und Bayer bietet etwa die rasche Alterung der Bevölkerungs-Pyramide Chinas gute Verkaufsaussichten. Die Strategieberater von Roland Berger sehen die verstärkte Hinwendung nach Asien dann auch als ein Schlüsselelement für die Überlebensstrategie der Chemie in Deutschland. Entsprechend stärken die beiden Dax-Firmen dann auch ihr Engagement in Fernost – trotz der Klagen über Chinas Wirtschaftsentwicklung bei vielen Wettbewerbern.
BASF beispielsweise investiert als größter Chemiekonzern der Welt bis zum Jahr 2020 in einem bereits laufenden Kraftakt rund zehn Milliarden Euro in Asien, vor allem in China, das bereits zum drittgrößten Einzelmarkt des Konzerns aufgestiegen ist. So betreibt die BASF im Reich der Mitte 23 Tochterunternehmen und sieben große Joint Venture. Dort werden mit fast 8000 Beschäftigten mehr als fünf Milliarden Euro Umsatz im Jahr erzielt.
Die BASF erzielte 2014 in Asien-Pazifik Verkaufserlöse von 12,3 Milliarden Euro. Mit 45 Prozent stammte davon nahezu die Hälfte aus dem Großraum China, zu dem Taiwan und Hong Kong gehören. Das Gesamtkonzept lautet: Mehr Nähe zum Kunden und vielversprechende Kooperationen in Industrien mit Zukunft.
Gleichwohl: Wie weit das für BASF reichen wird, um auch in den kommenden Monaten in China auf Kurs zu bleiben, werden Anleger nur beobachten können. „Die chinesische Wirtschaft hat den Boden jedenfalls noch nicht gefunden“, sagte Ökonom Liu Yaxin von China Merchants Securities in Shenzhen dem Magazin Format.
Davon lässt sich allerdings auch ein weiteres Dax-Schwergewicht nicht schrecken. Bei Bayer fällt China sogar eine zentrale Rolle im Umbau des Konzerns zu: Im laufenden Jahr fließen mehr als vier Milliarden Euro in den Life-Science-Bereich.
Zudem werden die Übernahme des Geschäfts mit rezeptfreien Medikamenten von Merck & Co. sowie die Akquisition des chinesischen Pharmaunternehmens Dihon Pharmaceutical nun umgesetzt. Beide Übernahmen wurden 2014 vollzogen, und zusammen machen sie aus Bayer den führenden Anbieter für rezeptfreie Medikamente im Wachstumsmarkt China.
Dihon mit Sitz im südwest-chinesischen Kunming beispielsweise hat umgerechnet 460 Millionen Euro gekostet, beschäftigt in China 2400 Menschen und ermöglicht Bayer den Einstieg in das lukrative Geschäft mit traditioneller Medizin auf pflanzlicher Basis. Im Unterschied zu Europa oder den USA macht traditionelle Medizin in der Volksrepublik die Hälfte des Markts mit rezeptfreien Arzneien aus.
„Diese Übernahme ist ein weiterer Beweis für unser Ziel, das Life-Science-Portfolio mit maßgeschneiderten strategischen Akquisitionen zu stärken“, kommentierte Bayer-Chef Marijn Dekkers den Dihon-Zukauf.
Das passt in die Gesamtstrategie von Bayer, weshalb die Entwicklung des Bayer-Geschäfts auf dem chinesischen Markt so charakteristisch für die Geschäftsentwicklung des Dax-Unternehmens generell wirkt: Der Bayer-Schwerpunkt auf das Pharmageschäft in China entspricht der künftigen Fokussierung des Konzerns auf das Pharmageschäft generell.
Bayer will sich in Zukunft auf die Life-Science-Geschäfte Gesundheits- und Agrarchemie konzentrieren. Die bisher im Konzern enthaltene Kunststoffsparte Material Science wird dagegen als eigenständiges Unternehmen namens Covestro an die Börse gebracht. Diese Abspaltung soll bis September 2015 erfolgen. Der Covestro-Börsengang steht nach Bayer-Angaben dann „im Jahr 2016“ an.
Die Rezeptur bei Bayer lautet also: Fokus auf den Umsatztreiber Life Sciences, dazu Vordringen in neue Segmente des bevölkerungsreichsten Landes der Welt und eventuell der Export von erfolgreichen Produkten und Verfahren, die daraus entstehen. Schon jetzt ist Bayer der weltweit zweitgrößte Anbieter rezeptfreier Produkte.
Zudem scheint Wachstum durch die Übernahme lokaler Mitstreiter in China zum Strategie-Cocktail zu gehören. Bei Bayer hatte Asien-Pazifik im Schlussquartal 2014 einen Anteil von knapp einem Viertel am Gesamtumsatz von 3,27 Milliarden Euro.
Wer sich so stark auf China konzentriert, geht natürlich dennoch ein Risiko ein. Das gilt gleichermaßen für Bayer, wie für BASF. Zumal, wenn der Internationale Währungsfonds – wie im Januar 2015 geschehen – seine Prognose für die Weltwirtschaft senkt und dafür vor allem das langsamere Wachstum in China verantwortlich macht.
„Bisher basierte Chinas Boom auf Exporten, unterstützt von massiven Investments, billigen Löhnen und einer explosionsartigen Vergabe von Krediten. Diese Wachstumsformel funktioniert nicht mehr“, glaubt auch Andrew Swan, der Asien-Aktienchef von Black Rock.
Im BASF-Geschäftsbericht für 2014 heißt es dazu in der Chancen- und Risikobewertung, wesentliche Risiken „sehen wir in einer erheblichen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in China infolge einer möglichen Immobilienmarktkrise.“
Die Bewertung des chinesischen Marktes bleibt trotzdem in beiden großen Dax-Unternehmen positiv. So verriet beispielsweise der BASF-Asien-Vorstand Martin Brudermüller der Wirtschaftswoche, China sei zwar in der Tat mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Doch „im Prozess der Problemlösung“ benötige China qualitativ hochwertige, ausgereifte Produkte. Dies könne von ausländischen Unternehmen als Chance genutzt werden.
Das sieht man in Ludwigshafen auch mit Blick auf die laufenden Reformen in China so, wo das Wachstumsmodell von einer exportgetriebenen auf eine vom Konsum beflügelte Konjunktur umgestellt wird. „Ich glaube weiterhin an China. Die Wirtschaftsreformen werden durchgesetzt, auch wenn es dabei ab und zu holpert“, sagt BASF-Manager Brudermüller.