Sie kamen früh morgens, gut vorbereitet, entschlossen – und beschlagnahmten: Unter anderem zwei Wohnungen an der Costa Smeralda, ein wuchtiges Hotel in Rom, ein Appartement in Tarquinia, allesamt in Besitz von Arkadi Rotenberg, des russischen Multimillionärs. Vorbei. Seit Italiens "Guardia di Finanza" an jenem Morgen im September 2014 die Russland-Sanktionen der Europäischen Union gegen Rotenberg durchsetze, ist der Oligarch seine Italien-Immobilien los.
Da hat Arkadi Romanowitsch Rotenberg Pech. Er ist eher ein Einzelfall.
Kaum ein Russe hat infolge der EU-Sanktionen bisher viel verloren, mussten europäische Staaten auf Nachfragen der Zeitung Welt im Juni 2015 einräumen. Reihenweise aber leiden unter den EU-Sanktionen deutsche Firmen, die früher starke Handelsbeziehungen mit Russland hatten. Für sie macht sich die Handelsbeschränkung rigoros bemerkbar.
Nach Angaben des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft von Ende Juni 2015 sind in Deutschland bereits 150.000 Arbeitsplätze infolge der Russland-Sanktionen bedroht, denn die deutschen Exporte nach Russland seien besonders hart zusammengeschrunpft. Die waren schon 2014 um 18 Prozent zurückgegangen, in den ersten vier Monaten 2015 aber brachen sie zum Vorjahr noch einmal um ein Drittel auf 6,8 Milliarden Euro ein, hat das Statistische Bundesamt ermittelt. Und die Talfahrt geht weiter.
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft registriert mittlerweile resigniert die regelmäßigen Verlustmeldungen, der Einfachheit halber angeblich gleich in einer Excel-Datei.
„Die aktuellen Zahlen übertreffen selbst unsere schlimmsten Befürchtungen“, bekannte Ende Juni 2015 Eckhard Cordes, Ex-Metro-Chef und Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. „Der deutsche Maschinenbau beispielsweise bricht in Russland geradezu ein.“
Die Rücksetzer für deutsche Firmen sind in der Tat so hart, dass die Folgen der Russland-Sanktionen schon die Konjunkturtests hierzulande drücken. Der Ifo-Geschäftsklima-Index beispielsweise ging im Juni 2015 auf 107,4 Zähler zurück.
Das war gemessen an den vorherigen Prognosen überraschend stark, und es war der zweite Rückgang in Folge – parallel zu den Rücksetzern in Deutschlands Außenhandel insgesamt: Der Wert der Ex- und Importe sinkt seit März 2015. Er ist im Mai 2015 in etwa auf das Niveau von Juni 2014 zurückgesackt, wie das Statistische Bundesamt errechnet hat.
Entsprechend fräsen sich infolge der Russland-Sanktionen auch bei den Dax-Konzernen breite Schneisen in die Bilanzen. Laut Siemens-Chef Joe Kaeser beispielsweise ist das Russland-Geschäft des Elektro-Konzerns im Jahr 2015 „etwa um die Hälfte zurückgegangen.“ Siemens macht in Russland seit Langem Geschäfte. Vor Verhängung der Sanktionen kam der Konzern dort auf fast zwei Milliarden Euro Umsatz im Jahr.
Anders als Arkadi Rotenberg ist der Siemens-Konzern kein Einzelfall der Sanktions-Geschädigten.
Der Sportartikler Adidas beispielsweise hat im Frühjahr 2015 angekündigt, etwa jeden fünften seiner 1000 Läden in Russland zu schließen. Das ist besonders bitter für das Unternehmen, denn Adidas schneidet gegen seine Erzrivalen Nike und Under Armour gerade in Russland besser ab, als auf anderen großen Märkten: Die Herzogenauracher sind in Russland klarer Marktführer. Mit entsprechender Bedeutung für das gesamtgeschäft von Adidas.
Vor den EU-Sanktionen machten die Russland-Verkaufserlöse mit 1,1 Milliarden Euro mehr als 7 Prozent der Gesamterlöse des deutschen Sportartikelherstellers aus; mit diesem prozentualen Russland-Anteil am Gesamtumsatz war Adidas Spitzenreiter im Vergleich der Dax-Unternehmen. Jetzt lesen sich die Zahlen weit weniger gut.
Adidas hat wegen der Misere in Russland schon im Jahr 2014 seine Gewinnprognose korrigiert, was den Fünf-Jahres-Plan des Unternehmens, die so genannte „Route 2015“, für Adidas außer Reichweite geraten ließ. Die Zahl neuer Filialen fällt kleiner aus, es werden mehr Altgeschäfte geschlossen als ursprünglich geplant. Dass 2014 bei Adidas der Gewinn um 37 Prozent zurückging, ist auch der Handelsmisere mit Russland geschuldet.
Auch die deutschen Autohersteller, allen voran VW, trifft die Russland-Krise stark. Europas größter Autokonzern machte schon im Jahr 2012 in Russland 6,5 Milliarden Euro Umsatz, das waren 3,4 Prozent des damaligen Gruppenumsatzes. Kein Wunder dann auch, dass Topmanager noch im Jahr 2013 Russland als den strategischen Wachstumsmarkt Nummer eins in Europa lobten.
Entsprechend plante Volkswagen, bis zum Jahr 2018 zusätzlich 1,2 Milliarden Euro in Russland zu investieren. Doch seit Europas Russland-Sanktionen heißt bei VW erst einmal Schadensbegrenzung die Devise.
Zwar beteuerte Volkswagen bis in den Herbst 2014 hinein, an diesem Investitionsplan festzuhalten. Doch schon die Auslastung der bestehenden Anlagen in Russland sank plötzlich: Volkswagen musste allein bis in den Winter 2014/15 drei Mal die Produktion im russischen Werk in Kaluga anhalten, aufgrund schleppender Verkäufe. Und das war offenbar erst der Anfang.
Volkswagen hat am 17. Juli 2015 einen dramatischen Einbruch seiner Verkäufe in Russland berichten müssen. So seien in der ersten Jahreshälfte 2015 nur noch 84.300 Autos der VW-Marken wie beispielsweise VW und Audi in Russland verkauft worden, nach 142.600 in der selben Vorjahresperiode. Das entspricht einem Desasterwert von -40,9 Prozent, und „Russland bleibt angespannt“, sagte VW-Vertriebsvorstand Christian Klingler.
Damit mussten die Wolfsburger nicht zuletzt aufgrund des Russland-Desasters im ersten Halbjahr 2015 insgesamt ein Verkaufsminus von 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr hinnehmen, und damit das Ende einer rund fünfeinhalb Jahre lange Wachstumsserie: Vor dem Minus in der ersten Jahreshälfte 2015 hatte es beim Volkswagen-Konzern zuletzt Ende 2009 Absatzrückgänge gegeben.
Der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer schätzt die Auswirkungen der Russland-Sanktionen für Volkswagen bis zum Jahr 2017 dann auch auf einen Umsatzverlust von mehr als 15 Milliarden Euro. Behält er Recht, würde dies wohl rechnerisch in etwa Gewinneinbußen von mehr als 600 Millionen Euro ergeben, verglichen mit dem zu erwartenden Geschäft ohne Sanktionen.
Zu den Sanktions-Verlierern zählt auch BASF. Dem deutschen Chemieriesen ist ein Tauschgeschäft mit dem russischen Partner OAO Gazprom durch die Lappen gegangen: BASF wollte durch seine Öl- und Gas-Handelstochter Wintershall durch einen Tausch von Anteilen, der schon 2012 vereinbart worden war, Zugriff auf Erdgasvorkommen in Sibirien gewinnen. Der Deal hatte sich bereits um ein Jahr verzögert, als er platzte und aus einer „beträchtlichen Zunahme“ des BASF-Ebit für 2014 nur ein leichtes Plus auf 7,63 Milliarden Euro wurde.
Doch es scheint seit dem St. Petersburger Wirtschaftsforum Mitte Juni 2015, dass Russlands Präsident Wladimir Putin – ob aus Prinzip, oder weil er mit Blick auf die benötigte Technologie nicht anders kann – weiterhin bereit ist, ausländische Firmen für Loyalität zum russischen Markt zu belohnen. Und zwar mit zehnstelligen Zahlen.
Siemens etwa erhielt einen langfristigen Wartungsauftrag der russischen Staatsbahn, mit der die Münchener schon länger kooperieren, für die sie beispielsweise den ICE-Ableger Velaro bauen. Es geht um Wartungsarbeiten für 240 Regionalzüge über eine Länge von 40 Jahren. Der Wert des Auftrags: Rund 1,7 Milliarden Euro. Die so genannten „Lastotschka“-Züge mit Technik von Siemens waren erstmals während der Winterspiele 2014 in Sotschi eingesetzt worden.
Siemens hat auch den sehr schnellen Zug „Sapsan“ (Wanderfalke) für die Strecke von Moskau nach St. Petersburg und Nischni Nowgorod gebaut. Er verkehrt seit 2009.
Mit einem dicken Auftrag kehrten auch Manager von Eon aus St. Petersburg heim. Gazprom hat mit dem deutschen Partner sowie Shell und OMV eine Absichtserklärung für eine zusätzliche direkte Gasleitung von Russland durch die Ostsee nach Deutschland unterzeichnet.
Die Jahresleistung der Pipeline soll 55 Milliarden Kubikmeter betragen. Die Röhre wird parallel zu der schon länger betriebenen Nord-Stream-Leitung laufen. An Nord Stream halten die Russen 51 Prozent der Anteile. Mindestens so viel strebt Gazprom auch an dem neuen Projekt an, sagt Gazprom-Sprecher Sergej Kuprijanow. Die BASF und Eon halten an Nord Stream jeweils 15,5 Prozent der Anteile.
Trotz der Spannungen zwischen Moskau und der EU denkt die BASF-Tochter Wintershall ihrem neuen CEO Mario Mehren zufolge über eine Expansion in Russland nach. „Wir sind offen für weitere Projekte“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters am Rande der Welt-Gas-Konferenz in Paris im Juni 2015. Demnach sollen bis 2018 rund 500 Millionen Euro in die existierenden Projekte Achimgaz, Yuzhno, Russkoye und Volgodeminpol gesteckt werden. Diese Vorkommen produzieren laut Reuters genügend Gas, um ein Drittel der deutschen Nachfrage zu decken.
Doch solche Mega-Deals können nicht darüber hinwegtäuschen, wie vergiftet das Klima zwischen Russland und der EU infolge der Sanktionen inzwischen ist. So hat die EU dann auch ihre Sanktionen gegen Russland im Juni 2015 bis zum 31. Januar 2016 verlängert, Russland daraufhin seinerseits seine Gegen-Sanktionen gegen die EU. Und bisher ist kein Ende des Schlagabtauschs in Sicht.
„Diese Sanktionen sind nutzlos. Sie werden Russland nie dazu zwingen, dass zu tun, was der Westen für richtig hält“, sagte Andrej Kostin der Zeitung Welt; er ist Chef der russischen Bank VTB.
Das österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) rechnete im Juni 2015 aus, dass die Russland-Krise Europas Wirtschaft bis zu 100 Milliarden Euro kosten kann. Das ist ein weitaus größerer Schaden, als ihn bislang die Kommission in Brüssel einräumt, aber anhand allein der wirtschaftlichen Rückschläge des Maschinenbaus in Deutschland plausibel.
Ohnehin werden nicht zuletzt deutsche Firmen gerne ein Ziel, wenn es politisch und emotional wird. Im Juni 2015 brachte der Rodina-Abgeordnete Alexej Schurawljow einen Gesetzesentwurf in der Duma ein. Das Ziel des Papiers war die Kennzeichnung von Produkten, deren Hersteller mit faschistischen Regimen kooperiert haben, etwa während des Zweiten Weltkriegs. Schurawljow versteht darunter zum Beispiel Firmen wie Siemens und BMW.
Aussichtsreich sind derartige Vorstöße bislang nicht. Im Februar 2015 waren in der Duma Forderungen nach Reparationen von Deutschland gescheitert. Vorerst.