Volkswagen-Chef Martin Winterkorn ist zurückgetreten. In einer Pflichtmitteilung von VW sagte er am heutigen 23. September 2015: „Volkswagen braucht einen Neuanfang – auch personell.“ Der langjährige Konzernlenker gehörte mit einem Jahresverdienst von rund 16 Millionen Euro zu den am besten bezahlten Managern Deutschlands.
Winterkorn hat damit die Konsequenz aus dem Skandal manipulierter Abgaswerte bestimmter Volkswagen-Diesel-Motoren gezogen, der den größten deutschen Industriekonzern Ende September 2015 tief erschüttert. Und das Debakel wird noch lange nicht beendet sein.
Das gilt zunächst für die deutsche Autoindustrie insgesamt, die sich flugs von Volkswagen abzugrenzen versucht, um nicht eigene Verkaufseinbrüche mit Diesel-Fahrzeugen zu erleben.
„Es handelt sich hier nicht um ein generelles Diesel-Problem, sondern um die illegale Anwendung einer speziellen Motorsoftware, um Tests zu schönen“, sagte Matthias Wissmann deshalb, Cheflobbyist der deutschen Autoindustrie.
Der Skandal ist aber vor allem nicht für die Volkswagen-Anteilseigner erledigt. Schon in den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden der Abgaswerte-Manipulation löste sich rund ein Drittel ihrer VW-Marktkapitalisierung in Luft auf. Seitdem fragen sich Aktionäre, wo der Boden für den VW-Aktienkurs ist, wie viel Schaden das Unternehmen langfristig nehmen wird – und ob möglicherweise eine drastische Schrumpfkur nötig sein wird, um den Konzern mit seinen zwölf Marken zu retten.
Antworten kann ihnen im Moment unter Umständen niemand. Denn neben der Chef-Etage von Volkswagen befindet sich derzeit auch der Aufsichtsrat des Konzerns in einer Übergangsperiode: Das Kontrollgremium wird vom IG-Metall-Gewerkschafter Berthold Huber nur so lange geführt, bis ein anderer den Job dauerhaft übernehmen wird.
Fragen an die Konzerngremien hätten die Anteilseigner derzeit aber genug. Die VW-Aktie hat zwischenzeitlich bei rund 95 Euro den niedrigsten Stand seit dem Oktober 2011 markiert. Erst dann ließ die Nachricht vom Rücktritt Winterkorns den VW-Aktienkurs noch am 23. September 2015 um mehr als 7 Prozent auf 118,90 Euro und am Morgen des 24. September um weitere 3,8 Prozent anziehen. Selbst das bedeutet aber noch einen Börsenwertverlust von gigantischen 17,5 Milliarden Euro binnen 72 Stunden.
Mehr noch: Analysten von JP Morgan haben das Kursziel für die Aktie des größten europäischen Autobauers drastisch von 259 auf 179 Euro gesenkt. Goldman Sachs riet VW-Aktionären noch am 23. September weiter zum Verkauf ihrer VW-Aktien, obwohl der Kurs im Monatsvergleich 30 Prozent verloren und auf Basis von drei Monaten 49 Prozent eingebüßt hatte.
Analysten der Deutsche Bank haben das Debakel, von dem elf Millionen Diesel-Fahrzeuge betroffen sind, schon als „Investoren-Albtraum“ bezeichnet. Sie haben ihre Gewinnschätzungen bis zum Jahr 2017 für den VW-Konzern um 35 Prozent gekürzt.
Enthalten in dieser Prognose sind geschätzte juristische Kosten von fünf Milliarden Euro, Aufwendungen für anstehende Rückrufaktionen, geringeres Wachstum sowie Preisdruck, der aus dem Imageschaden für VW resultiert. Volkswagen selbst hat bereits eine ergebniswirksame Rückstellung von 6,5 Milliarden Euro für das dritte Quartal 2015 angekündigt.
Rund um den Globus sind Öffentlichkeit und Brancheninsider entsetzt über die Ausmaße des Skandals, der schon jetzt als einer der größten in der deutschen Industriegeschichte gilt. Der britische Telegraph sieht das „Made in Germany im Gully“ liegen. Millionen von Autofahrern, so erzürnt sich das Blatt, „sind mit illegalen Fahrzeugen unterwegs“.
Das ist ein Wink für die immensen Gerichtskosten, die VW durch Massenklagen etwa in Nordamerika drohen könnten. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung sind allein zwischen dem 18. September und 23. September 2015 bereits 37 solcher Klagen bei US-Gerichten eingereicht worden, zwei weitere in Kanada. Anwalt Steve Berman aus Seattle im Bundesstaat Washington hat den Angaben zufolge die erste Klage dieser Art für einen VW-Fahrer aus Kalifornien eingereicht.
Rechnet man die Verluste der aktuellen Besitzer von Volkswagen-Modellen mit „Schummel-Motoren“ beim Wiederverkauf ihres Autos, könnten noch einmal so hohe Kosten für VW anstehen wie die Maximalstrafe, die seitens der US-Justiz mit bis zu 18 Milliarden Dollar für die Manipulation der Diesel-Abgaswerte droht.
So gigantisch die Zahlen wirken, so martialisch fällt auch die internationale Einordnung der VW-Krise aus.
In der britischen Presse etwa wird der Skandal als der „Libor-Moment der Autoindustrie“ bezeichnet, was auf die Manipulation der Referenz-Zinsen zwischen Banken durch einige Kreditinstitute anspielt. Hier haben die Banken weltweit bereits einige Milliarden Euro für Vergleiche gezahlt.
Die Financial Times, die „einen schlimmen Schaden für die Glaubwürdigkeit von VW“ fürchtet, sieht den Sachverhalt im Emissions-Drama als „eine Rache der Realität.“ Ausgerechnet in jenem Markt, den VW neben China für die erklärte Ablösung von Toyota an der Weltspitze brauche, den USA, habe man es sich nun gründlich verscherzt.
Allerdings scheinen die Autoexperten bei der FT mit geringeren Strafen für VW in den USA zu rechnen. Denn sie erinnern an die asiatischen Autohersteller Hyundai und Kia, die einst in den USA für Falschangaben über den tatsächlichen Kraftstoffverbrauch ihrer Fahrzeuge 100 Millionen Dollar Strafe zahlen mussten, also umgerechnet etwa 89,5 Millionen Euro.
Die Markenspezialisten auf der Webseite Warc.com zitieren derweil den Analysten Yim Eun-young von Samsung Securities, der schweren Schaden für den Markenwert von VW erwartet und darauf verweist, dass die Dieseltechnologie „das Rückgrat der Markenreputation“ des Unternehmens sei.
Im Klartext: Der Wolfsburger Konzern muss fürchten, einen beträchtlichen Rückschlag in den USA zu erleiden. Dort kommt er ohnehin kaum von der Stelle.
Den einzig positiven Kommentar zu VW findet man in der US-Berichterstattung auf der Finanzwebseite Zero Hedge, wo gefragt wird, welche seltsamen Prioritäten die US-Behörden hätten. Schließlich brumme das US-Justizministerium dem „Bailout-Darling General Motors“ für lange verschwiegene Zündprobleme, die 174 Menschen das Leben gekostet hätten, umgerechnet 810 Millionen Euro Strafe auf. VW dagegen drohten die US-Behörden für Schadstoff-Tricksereien ohne Todesfälle bis zu umgerechnet 16,2 Milliarden Euro Strafe an.
VW selbst hüllt sich derzeit in Schweigen darüber, wie viel Ungemach seinen Aktionären drohen kann. Der Großaktionär Qatar hat jedenfalls in den ersten zwei Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals beinahe fünf Milliarden Euro Verlust auf sein VW-Paket erlitten. Die Eignerfamilien Porsche und Piëch sowie das Land Niedersachsen beklagen ebenfalls einen Milliardenverlust.
Das Problem ist auch für Branchenexperten, zu diesem frühen Zeitpunkt überhaupt einschätzen zu können, wie groß der mögliche Schaden am Ende sein dürfte. Die Unsicherheit in der Prognose beginnt schon beim Aktienkurs, für den es nicht nur sehr unterschiedliche Kursziele der Analysten gibt.
„Auch fünf Milliarden Strafe wären schon eine schwere Last“, zitiert das Magazin Focus den Autoanalysten Jürgen Pieper des Bankhauses Metzler, „der Markt wird seit Monaten nicht mehr von Rationalität getrieben, sondern von Stimmungen.“
Niemand weiß außerdem, was die von Winterkorn vor seinem Rücktritt angekündigte externe Untersuchung zutage fördern wird und ob weitere Autohersteller trotz der schnell erfolgten Dementis ähnliche Software gestrickt haben, um die behördlichen Tester zu täuschen.
Die US-Behörden werden das späte Reagieren des deutschen Konzerns jedenfalls kaum zu Gunsten von VW auslegen. Die Wolfsburger rückten offenbar erst mit der Wahrheit heraus, als Amerikas Umweltbehörde EPA manchen VW-Fahrzeugen keine Zulassung für 2016 zu erteilen drohte. „Es gibt keinen optimistischen Dreh zu der ganzen Geschichte, das ist wirklich ernst“, sagt dann auch Analyst Max Warburton von der Research-Gruppe Bernstein dem britischen Guardian.
Der Skandal dürfte über Wochen, wenn nicht gar Monate oder Jahre in den Schlagzeilen bleiben, während sich der andere große Zukunftsmarkt für VW auf der Welt, China, mit immer neuen Hiobsbotschaften zur Konjunktur weiter eintrübt.
Zudem haben zahlreiche Regierungen und Behörden in Europa angekündigt, Sondertests für Fahrzeuge aus Wolfsburg durchzuführen. Frankreich, Südkorea und Australien haben Ermittlungen begonnen. Bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft sind mehrere Strafanzeigen von Bürgern eingegangen. Er sei „vor allem fassungslos“, hat Winterkorn nach der Sitzung des Aufsichtsrates gesagt.
Dieser Gemütszustand dürfte auch auf die Aktionäre des Konzerns zutreffen.