Der größte deutsche Industriekonzern organisiert sich neu. Der ehemalige Porsche-Chef Matthias Müller übernimmt die Leitung des Volkswagen-Konzerns. Er tritt damit die Nachfolge von Martin Winterkorn an, der infolge des Skandals um manipulierte Abgaswerte bestimmter VW-Dieselmotoren zurückgetreten ist.
Neben Martin Winterkorn mussten bis Ende September 2015 rund ein Dutzend Volkswagen-Manager erste Konsequenzen ziehen. So wurden inzwischen die Entwicklungschefs der Marken VW, Audi und Porsche suspendiert. VW-Chefentwickler Heinz-Jakob Neußer, der bis zur Klärung der Vorwürfe zu den beurlaubten Managern zählt, soll schon vor vier Jahren von einem Techniker einen Hinweis bekommen haben, diesem aber nicht nachgegangen sein. Für Neußer soll Frank Welsch in den Startlöchern stehen, derzeit Entwicklungschef von Skoda.
Für die Topentwickler bei Audi und Porsche, Ulrich Hackenberg und Wolfgang Hatz, werden Matthias Rabe und Eckhard Scholz gehandelt. Rabe ist Seat-Entwicklungschef, Scholz in Hannover für die leichten Nutzfahrzeuge verantwortlich.
Die Aufarbeitung des Abgasskandals bei VW beschleunigt sich unter dem neuen Chef Matthias Müller. Er spricht von der „größten Bewährungsprobe der Geschichte“ für Volkswagen, die auf den Konzern in den kommenden Monaten zukommen werde. Beobachter, Autoanalysten und Juristen geben ihm Recht.
Zunächst stehen neben der laufenden Aufklärung umfangreiche Rechtsstreitigkeiten und die größte Rückrufaktion der Firmengeschichte in Deutschland an, die Ermittlungen von Staatsanwälten laufen. Klagen von Kunden kommen dazu. Die nachhaltigen Kosten des eingetretenen Imageschadens lassen sich hingegen schwer beziffern.
Allein der kurzfristige Schaden für die Marke VW wird vom britischen Markenexperten Brand Finance der Zeitung Business Standard zufolge mit zehn Milliarden Dollar veranschlagt, also rund 8,93 Milliarden Euro. Das gilt jedoch nur für die erste Woche nach Bekanntwerden von „Dieselgate“, wie das Abgas-Debakel in den USA in Anlehnung an die berühmte Watergate-Affäre genannt wird.
Schon im Oktober 2015 will VW rund fünf Millionen Fahrzeuge in die Werkstätten rufen, um die im Kreuzfeuer stehende Software zu entfernen und Umbauten an der Hardware vorzunehmen. Der Konzern hatte nach Bekanntwerden des Skandals zugegeben, dass weltweit elf Millionen Autos mit der Schummel-Software unterwegs sind, darunter auch von den Konzernmarken Audi, Skoda, Seat und leichten Nutzfahrzeugen von VW.
Die Rückrufaktion wird nach ersten Schätzungen rund 6,5 Milliarden Euro kosten und damit grob die Hälfte des prognostizierten operativen Konzerngewinns des laufenden Jahres 2015 verschlingen. Neben den fünf Millionen Autos der Kernmarke Volkswagen, die von dem Skandal betroffen sind, geht es noch um 2,1 Millionen Fahrzeuge von Audi, 1,2 Millionen von Skoda, 700.000 von Seat sowie nahezu zwei Millionen leichte Nutzfahrzeuge von VW.
Auch die geografische Streuung der Abgasmanipulation lässt ahnen, wie schwierig und teuer die Aufarbeitung werden könnte. In Österreich sind nach ersten Ermittlungen über 360.000 Fahrzeuge betroffen, in Frankreich mehr als 900.000, in Belgien fast 394.000.
Zu den großen Rätseln, die erst noch gelüftet werden müssen, gehört in der Anfangsphase dieses Skandals eine erstaunliche Erkenntnis: Volkswagen ist das vergleichsweise hohe Risiko mit dem Abgasbetrug erwischt zu werden eingegangen, ohne sich in einer scheinbar ausweglosen Sackgasse zu wähnen. Das Unternehmen ist offenbar technisch in der Lage, auch ohne Manipulation die geforderten Emissions-Vorschriften seiner beanstandeten Motoren zu erfüllen.
Einem ersten Bericht an den VW-Aufsichtsrat zufolge soll die Entscheidung zum Einbau der betrügerischen Software Mitte des vergangenen Jahrzehnts gefallen sein, als Bernd Pischetsrieder Konzernchef war und Wolfgang Bernhard Chef der Marke VW. Volkswagen wollte wieder einmal in den USA Land gewinnen und vor allem mit Dieselfahrzeugen Marktanteile ausbauen. Doch um Geld zu sparen, wurde auf den Einbau der nötigen Abgasreinigung verzichtet, so der Bericht.
Kein Wunder daher, dass der Wirtschaftsminister von Niedersachsen, Olaf Lies, der dem VW-Aufsichtsrat angehört, die Verantwortlichen als kriminell bezeichnet. Lies sieht laut dem Spiegel „mit Sicherheit viele Schadensersatzklagen“ vorher.
Der Mann könnte Recht behalten. Nicht zuletzt, weil sich derzeit Aufsichtsbehörden in aller Welt dem Druck ihrer Bürger ausgesetzt sehen, ebenfalls etwas gegen Volkswagen zu unternehmen. So drohen VW selbst im fernen Australien hohe Strafen.
„Wir sind sehr besorgt über die potenziellen Verbraucher- und Wettbewerbsnachteile“, zitiert das Handelsblatt Rod Sims, den Chef der Verbraucherschutzbehörde Australiens (ACCC). „Diese Untersuchung hat für die ACCC Priorität“, ergänzte Sims später, berichtet RTL Luxemburg.
Absehbar scheinen derzeit schon Zahlungen in Spanien zu sein. Die Regierung des Landes möchte Subventionen für Volkswagen erstattet bekommen, die Spanien in der Finanzkrise zur Stützung der eigenen Wirtschaft aufgebracht hatte. So flossen für den Kauf von Neuwagen 1000 Euro Staatszuschuss an Spaniens Autokäufer.
Diesen Zuschuss fordert der südeuropäische Staat nun von VW zurück, sofern spanischen Bürger mit diesem Geld vor Jahren manipulierte Diesel-Fahrzeuge gekauft haben. Und nach Angaben des iberischen Industrieministers José Manuel Soria wolle Volkswagen die Summe auch zahlen.
Wie die Rechnung für den VW-Konzern am Ende aussieht, vermag auch Ende September 2015 niemand abzusehen. Bis zu 18 Milliarden Dollar Strafe – also rund 16 Milliarden Euro – droht das US-Umweltministerium dem Konzern an. Hinzu kommen Hunderte von Klagen, die Investoren, Kunden und Bezirke der USA einreichen.
So hat der Bezirk Harris County in Texas als erste US-Gebietskörperschaft Klage wegen „Luftverpestung“ eingereicht, weil auf dessen Straßen mindestens 6000 Dieselfahrzeuge mit der Manipulations-Software von VW fahren sollen. Auch Verbraucher haben demnach mindestens 80 Klagen eingereicht.
Kalifornische VW-Kunden haben am 1. Oktober mit Hilfe der Anwaltskanzlei Keller Rohback eine Sammelklage gegen den Wolfsburger Autobauer auf den Weg gebracht. Denn Volkswagen habe umweltbewusste kalifornische Kunden absichtlich betrogen. Das Verhalten von Volkswagen sei „verachtenswert”, sagte Lynn Sarko den Detroit News, einer der Chefs der Sozietät.
Zudem machen die ersten Aktionäre Forderungen gegen den größten deutschen Industriekonzern geltend, weil sie nach ihrem Verständnis zu viel für VW-ADRs gezahlt haben; als ADR werden die US-Anteilsscheine von Volkswagen bezeichnet. Doch wenn ein Bericht des Wall Street Journal stimmt, könnte VW von einer seit Jahren bestehenden US-Rechtsprechung profitieren und in diesem Fall sehr glimpflich davonkommen.
Sieht doch Clean Air Act von 1970, offenbar dank fleißiger Lobbyarbeit der Autoschmieden, in den meisten Fällen eine Straffreiheit für Autofirmen vor. Jetzt suchen Staatsanwälte in den USA nach einem Weg, Volkswagen stattdessen wegen unwahrer Angaben gegenüber Regulierern zu belangen. Das allerdings hört sich nicht mehr so gravierend an wie die ursprünglich genannte Strafe von umgerechnet bis zu 16 Milliarden Euro.
In US-Zeitungen werden zudem Zitate eines Juristen herumgereicht, der auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2010 verweist. Der Mann arbeitet bei der Kanzlei Bernstein Litowitz Berger & Grossman in New York und erinnert an ein Verfahren gegen die National Australia Bank vor fünf Jahren.
Laut dem Urteil können nur solche Investoren vor Gericht ihre Wertpapierverluste einklagen, die amerikanische ADRs gekauft hatten. Anleger, die Aktien von Firmen außerhalb der USA an Börsen in Übersee gekauft haben, könnten demnach leer ausgehen, was die Kosten für VW begrenzen würde.
Bernstein Litowitz Berger & Grossman ist für Volkswagen kein Unbekannter. Die Großkanzlei BLB&G stellte am 1. Oktober 2015 einen Antrag auf Zentralisierung aller Klagen im Zusammenhang mit „Clean Diesel“-Marketing, Verkaufspraktiken und Produkthaftung von Volkswagen in Kalifornien. Der Antrag betrifft alle Sammel- und Einzelklagen auf Schadenersatz für Verbraucher.
„Die von Volkswagen betriebene Überlistung der kalifornischen und US-bundesgesetzlichen Emissionsstandards ist wirklich schockierend und verwerflich, und alle betroffenen Verbraucher haben das Recht auf Schadensbehebung“, sagte BLB&G-Partner Blair A. Nicholas nach Angaben von wirtschaft.com.
Fazit: Für die verunsicherten Aktionäre von VW gibt es bisher mehr Fragen als Antworten. Die Kosten des Skandals sind nicht annähernd absehbar. Kreditwächter wie das Rating-Haus Fitch haben das langfristige Ausfallrisiko von Volkswagen-Schulden vor einigen Tagen unter Beobachtung gestellt, auch die Herabstufung des VW-Ratings scheint möglich. Das könnte dann die Refinanzierung des VW-Konzerns in der Zukunft belasten.
Erste Branchenexperten spekulieren deshalb bereits über eine Kapitalerhöhung bei VW – die Aktionäre werden das nicht gerne hören.
Der Wer ihrer Anteilsscheine ist ohnehin bereits stark gefallen. Der Volkswagen-Aktienkurs sank alleine in der letzten Septemberwoche 2015 um 16 Prozent, von Mitte bis Ende September 2015 addiert sich das Minus auf fast 40 Prozent. Und der Minustrend könnte noch nicht gebrochen sein, sagen Analysten.
So raten Goldman Sachs und das Bankhaus Lampe den VW-Aktionären, selbst auf dem niedrigen Kursniveau von Ende September 2015 ihre VW-Titel noch zu verkaufen. Die Goldman-Analysten beispielsweise sehen ein erhöhtes Risiko für das zukünftige Geschäft von Volkswagen, weil sich Kunden von der Dieseltechnologie insgesamt verabschieden könnten.
Der neuerdings stagnierende chinesische Automarkt, auf dem Volkswagen jedes dritte Auto aus seiner Produktion absetzt, ist in diesem Szenario noch gar nicht enthalten.